Fast in jedem zweiten Haus wohnte ein Kind in ähnlichem Alter wie ich. Mit Doris von Gegenüber hatte ich die Unterschiede zwischen Mädchen und Buben untersucht, als plötzlich meine Mutter im Treppenhaus zu hören war. So schnell wie irgend möglich hatte ich mir was angezogen um meine Mutter im Treppenhaus abwimmeln zu können. Aus irgend einem Grund hatte ich wohl ein Kleidungsstück von Doris erwischt und stand nun in einem rosanen Oberteil mit Puffärmelchen vor meiner Mutter. Sie schaute mich zwar mit großer Verwunderung an, sagte aber nichts. Sie schaute auch nicht in mein Zimmer und ging wieder nach unten. Glück gehabt.

Mit den anderen Kindern traf man sich meistens draußen. Mein Vater mochte eigentlich nicht, dass fremde Kinder in unserem Haus waren. Vielleicht hatte er Angst, dass diese zu Hause erzählten, wie es bei uns so aussah und ob bei uns die nachbarschaftswürdigen Luxusartikel vorhanden waren. Oder warum auch immer.
In der Faschingszeit zogen wir, die Kinder der Dreieichstrasse, als Cowboys und Indianer verkleidet, in den Kampf gegen die ähnlich verkleideten Kinder der Brunnenstrasse. Der Kampf fand aber mehr in unseren Köpfen statt als dass es zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Wobei, bei dem Einen oder Anderen schon ein gewisses Potenzial zu Gewalt zu erkennen war.
Die Eltern zu dieser Zeit mussten sich damals keinen Kopf darüber machen, ob das als Indianer verkleidete Kind jetzt eine kulturelle Aneignung begeht oder nicht. Auch musste man nicht darüber nachdenken, ob beim „Räuber und Gendarm“ spielen ein Räuber tatsächlich ein Räuber und der Gendarm tatsächlich im Polizei Dienst tätig ist oder in näherer Zukunft sein würde. Jedenfalls waren selbstverständlich alle Protagonisten bewaffnet. Erstaunlicherweise wurde kein einziger von uns Kindern irgendwann zum Massenmörder oder hat jemals eine Straftat unter Anwendung von Waffengewalt begangen.

Unglaublich stolz machte mich die Frage einer in der Nachbarschaft wohnenden Sechzehnjährigen, die von beeindruckender Schönheit war, ob denn mein Bart echt sei.
Eigentlich spielte ich gerne alleine. Da konnte niemand meine Versuche Dinge zu lernen oder Sachen zu erfinden, bewerten oder mich gar auslachen. Fahrradfahren zum Beispiel habe ich mir mit Hilfe des Damenrades meiner Schwester Helga selbst beigebracht. Ich konnte natürlich nicht auf dem Sattel sitzen, musste daher immer im stehen fahren, was dann irgendwann perfekt klappte. Ein eigenes Fahrrad für mich war für meine Eltern unerschwinglich. Die Periode der wunderschönen Bonanza-Räder mit Sitzbank und Fuchsschwanz, ging völlig an mir vorbei. Natürlich hatten Kinder in der Nachbarschaft solch ein Rad, und ich durfte auch mal damit fahren, um selbst feststellen zu können, wie enorm wichtig es war, solch ein Rad zu besitzen.
Apropos besitzen. Mein Cousin Horst besaß eine Dampfmaschine als Spielzeug. Die Dampfmaschine wurde richtig mit Kohle betrieben und machte was eine Dampfmaschine eben so machte. Sie bewegte sich und dampfte. Anfangs war ich total neidisch. Das legte sich jedoch schnell, da das spielerische Potential doch sehr eingeschränkt war.
Beeindruckend war, dass ich diese Dampfmaschine im Wohnzimmer von Onkel Heinz und Tante Liesel vorgeführt bekam. Das Zimmer beherbergte die guten Polstermöbel und wurde sehr selten genutzt und geheizt. Geheizt war die Küche und da spielte sich alles ab. Die Wohnung befand sich in der Waldstrasse, gehörte einer bösen Frau, hatte Ofenheizung und Toilette im Treppenhaus im Zwischengeschoss. Dann doch lieber keine Dampfmaschine und ein Eigenheim im Westteil Neu-Isenburgs.
Jedenfalls war es eine tolle Zeit. Irgendwie schafften wir Kinder aus der Umgebung es immer wieder uns zu verabreden, obwohl, kaum vorstellbar, man nicht über WhatsApp, Signal oder Ähnliches verfügte. Einige hatten noch nicht mal ein Telefon zu Hause oder durften es nicht benutzen, weil ja ein Telefonat innerhalb des Ortes 25 Pfennige kostete.
So verbrachten wir unsere Zeit meistens im Wald. Bauten uns Lager aus Zweigen und Ästen, in denen wir dann hausten und der berüchtigten „Sickergrubenbande“ (die nie einer zu Gesicht bekam) auflauerten. Immer bereit unser Territorium bis aufs Blut zu verteidigen. Apropos Blut, das konnte ich ja gar nicht sehen. Als ich mir mal eine Schraube in den Fuß getreten hatte, fiel ich beim Entfernen der Selben sofort in Ohnmacht. Noch am selben Tag bekam ich dann bei einer Schlacht in einer Sandgrube einen Stein an den Kopf. Das war OK, da kein Blut floss, alle Augen noch vorhanden waren und auch sonst äußerlich nichts beschädigt schien.
Die berüchtigte Sickergrubenbande war nach den zwei Sickergruben, die sich im Wald befanden und zur Entwässerung von irgendwelchen Kanälen dienten, benannt. Wir kletterten munter um und in der Sickergrube herum, was heutige Helikoptereltern wahrscheinlich in die blanke Hysterie triebe. Wir passten halt gegenseitig auf uns auf. Das funktionierte immer.
Meine hauptsächlichen Spielkameraden waren Eddi und Berndi. Berndi (eigentlich hieß er Bernhard) war zwei Jahre jünger als ich und wohnte an der Ecke zur Gartenstrasse in einem Haus mit drei Parteien in der untersten Wohnung. Da lebte er mit seinen zwei älteren Brüdern und seinen Eltern in einer Dreizimmerwohnung. Sein Vater war Bauarbeiter bei einem Bauunternehmen in Neu-Isenburg, und seine Mutter war zu Hause und terrorisierte die Familie. Abgesehen davon, dass sich auch hier alles in der Küche abspielte, war es mit dieser Frau dort kaum auszuhalten. Bei einem meiner sehr wenigen Besuche dort sah ich wie die Mutter, die übrigens ständig irgendwelche kehligen Hächelgeräusche von sich gab, sich ein Brot mit Butter beschmierte und darauf sehr vier Knoblauch verteilte und selbiges anschließend verzehrte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Knoblauch, das war doch Zigeunerkram und wurde in der guten deutschen Küche nicht verwendet. Da war die Gewürzpallette mit Salz, Pfeffer und vielleicht noch Paprikapulver ausreichend bestückt.
Mit Berndi malte ich mit Kreide Strassen auf den Bürgersteig und wir spielten stundenlang mit unseren Modellautos. Was mich aber damals schon zum Wahnsinn trieb, war die Tatsache, dass Berndi keinen Sinn für Massstabstreue hatte. Er mischte „Wicking Autos“ im Massstab 1:87 mit denen von „Corgi Toys“ im Massstab 1:43. Das muss man sich mal vorstellen. Das geht doch nicht. Aber sonst war er ein lieber Kerl, obwohl er ja im Verdacht stand meinen Roller „ausgeliehen“ zu haben. Er litt halt unter den häuslichen Gegebenheiten. Seine Mutter stand auch unter dem Verdacht seinen Vater hier und da einmal zu schlagen. So wurde es zumindest von der über der Familie wohnenden Frau, einer Freundin meiner Mutter, behauptet.
Eddi hingegen war 2 Jahre älter und wurde erst als ich bereits 10 Jahre alt war, mein bester Freund. Er hatte eine platte Nase. Dadurch sprach er immer sehr nasal und hörte sich immer ein bisschen an wie Theo Lingen. Zum ersten Mal sah ich ihn, als ich in der 5. Klasse der Realschule war und er bereits in der 7. Klasse. Er spielte in den Pausen mit seinen Klassenkameraden Nazi. Sie maschierten im Stechschritt mit Stiefel bekleidet, den Hitlergruß zeigend über den Schulhof. Man ließ sie einfach gewähren. Ein halbes Jahr später gab es einen neuen Themenkreis, der bespielt wurde, und das Thema Nazi war erledigt. Ohne aufgebrachte Lehrer und Elternschaft, das Bemühen von Anwälten oder Medien, war die Angelegenheit einfach verpufft.
Mit Eddi konnte man so toll spielen. Wir waren Lokführer mit unseren Fahrrädern, waren Kriminalkommissare mit Büro bei uns im Garten. Schreibmaschine und Telefon (funktionslos) inbegriffen. Wir schrieben Theaterstücke und brachten sie im Hundeschissgängelchen zur Aufführung. Nachts morsten wir uns mit der Taschenlampe zu. Er war einfach ein toller Spielkamerad für mich. Er verstarb leider sehr jung an einer Krankheit, die er wohl geerbt hatte.
Auch Berndi verstarb noch im Kindesalter als er sich eine Stehlampe aus Messing neben die Badewanne stellte und sich daran festhielt, um aus der Wanne zu steigen. Das war ein ziemlicher Schock für mich.
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