12) Wirtschaftswunder und seine Tücken

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Es war für mich ein Glücksfall in einem Eigenheim aufwachsen zu dürfen. Mit einem eigenen kleinen Zimmer und einem relativ schönen Garten. Natürlich war mein Vater als Alleinverdiener nicht gerade üppig mit Geld gesegnet. Die Löhne waren nicht sehr hoch, und der Unterhalt des Hauses kostete. Er war der einzige Ernährer der Familie solange ich klein war, und in dieser Rolle sah er sich auch. Erziehung war die Sache von meiner Mutter. Er arbeitete bis zu seinem Herzinfarkt im Schichtdienst, und wenn er von der Arbeit kam, stellte er seine Aktentasche auf ihren Platz zwischen Standuhr und Bücherschrank und wollte mit Themen aus dem Bereich Erziehung nicht behelligt werden.

Als ich fünf Jahre alt war, musste die Standuhr ihren angestammten Platz verlassen, damit der Fernseher ins Esszimmer einziehen konnte. Diese Anschaffung hatte fortan großen Einfluss auf das Familienleben. Karten- oder Brettspiele wurden nicht mehr gespielt, und Gespräche konnten auf ein notwendiges Minimum reduziert werden, denn jetzt sprach der Fernseher. Am Anfang wurden die beiden einzigen Programme nur mit Zimmerantenne empfangen. Die Bildqualität entsprach dem, was man so sieht, wenn es sehr stark schneit. Zum Umschalten zwischen den Programmen musste man sich noch zum Gerät bemühen und einen Drehknopf betätigen und danach jedes mal den Empfang feinjustieren. Das Ganze selbstverständlich nur schwarz-weiß. Das Programm hatte einen Sendebeginn und ein Sendeende, davor und danach gab es ein Testbild. Zu Anfang war die Auswahl des Programms leicht. Es gab ARD, und weil wir in Hessen lebten den Hessischen Rundfunk mit einem Minimal-Regionalprogramm. Im April 1963 (ich bin jetzt acht Jahre alt) kam noch das ZDF hinzu.

Wichtige Fernsehtermine waren die amerikanischen Serien, die ich natürlich nicht alle sehen durfte. „77 Sunset Strip“ mit einem Protagonisten namens Cookie war immer Gesprächsthema in der Familie. Das war zu aufregend für mich. Ich durfte „Am Fuß der blauen Berge“ und „Die Augsburger Puppenkiste“ sehen. Letztere halte ich bis heute für eine großartige Produktion, von meiner Enkelin mit Missachtung gestraft.

Als das Farbfernsehen kam, war ich bereits zwölf. Ich besuchte damals mit meiner Mutter eine Dame in Götzenhain. Eine Bekanntschaft meiner Mutter aus der Kur, glaube ich. Jedenfalls hatte selbige Dame einen Sohn, der ein Jahr älter war als ich. Dieser Sohn war von einem Schulfreund zum Farbfernsehen eingeladen worden und ich durfte mit. Ein Farbfernsehgerät war zu jener Zeit völlig unerschwinglich für den Normalbürger mit knapper Kasse.

Wir gingen also gemeinsam zu einer Villa. Das war wirklich eine Villa, wie man sie sich nur träumen konnte. Wir gingen zusammen mit dem Sohn des Hauses in den Salon. Dort wurden uns Getränke und Knabberzeug serviert. Der Sohn des Hauses drückte ein paar Knöpfe an der Wand und es schlossen sich die schweren roten Samtvorhänge. Die Verdunkelung diente dem besseren Farbfernseherlebnis. Die Sendung dauerte zirka eine Dreiviertelstunde, dann ging´s in Schwarzweiß weiter und wir verließen die Villa wieder.

Das Erlebte, speziell die Villa, blieben mir noch lange, nachhaltig in Erinnerung. Ich fragte mich oft, was man wohl für einen Beruf haben muss um so reich zu werden. Die Antwort bekam ich viele, viele Jahre später, aus den Nachrichten. Der Eigentümer der Villa wurde polizeilich gesucht. Der auf der Flucht befindliche Großbordellbetreiber, hatte sich anscheinend nach Israel abgesetzt. Welches Vergehen ihm zur Last gelegt wurde, weiß ich nicht mehr. Aber was ich wusste, war der Grund des enormen Reichtums.

Naja, das Telefon kam dann auch. Das schwarze klobige Teil stand auf einem sogenannten Zeitungswagen neben dem neuen Standort für die Standuhr. Der Zeitungswagen hatte vier Rollen, ein V-förmiges Fach für Zeitungen und Illustrierte und eine graumelierte Resopalplatte, auf der das Telefon seinen Platz hatte. Direkt daneben das noch sehr dünne Telefonbuch. Im Zeitungsfach fand man „Constanze“, „Burda“ und „Brigitte“, mit ihren Schnittbögen zum Kleider selbst schneidern. „Quick“ und „Stern“ gab es nur, wenn man sie geschenkt bekam. Dies war der Fall, wenn wir Besuch von Willi und Henni bekamen. Diese wohnten im benachbarten Zeppelinheim und hatten es mit einer Werbeagentur zu großem Wohlstand gebracht. Mein Vater sagte öfter: „Wenn der sich Nachts rumdreht, hat er jedes mal 5000,-DM verdient.

Das Telefon war auch so ein Prestigeobjekt, da es galt, dieses so wenig wie möglich zu benutzen, denn jedes Ortsgespräch kostete 25 Pfennige, und bei einem überörtlichen Gespräch war man, je nach Dauer, schnell im DM-Bereich angekommen.

Neu-Isenburg hatte zu der Zeit ca. 40.000 Einwohner. In der nahen Bahnhofstrasse gab es drei Tankstellen, ein Kino (Bali), einen Schuhmacher, der seinen Namen noch verdiente, einen Schrotthändler, Dr. W., die Zündholz-Monopol-Gesellschaft, jede Menge Kneipen, von denen es nur noch die „Tortuga“ gibt, die immer einen schlechten Ruf hatte, Bäcker, Metzger und Lebensmittelgeschäft. Heute existieren noch besagte „Tortuga“ und der Bäcker. Alles andere musste anderen Interessen weichen. Außer der Zündholz-Monopol-Gesellschaft gab es in Neu-Isenburg auch die Brandwein-Monopol-Gesellschaft. Beide Monopole, Zündwaren 1983 und Branntwein 2017, wurden vom Staat aufgegeben.

In der näheren Umgebung unseres Hauses gab es „den Simon“, ein SPAR-Lädchen, das anfangs in einem Schuppen war und danach in einem Hinterhof eines Neubaus. „Die Fraa Krause“ hatte eine ehemals recht große Gärtnerei, die nach dem Tod von der „Fraa Krause ihrm Mann“ zusehends verfiel und im größten Gewächshaus einen Gemüseladen unterhielt. Um die Ecke war „der Kuhn“, eine Apfelweinwirtschaft mit eigener Kelterei und einem drei Meter hohen begehbaren „Bembel“ im Hof. Dort befand sich auch eine Filiale eines renommierten Isenburger Metzgers. In unserer Straße wohnte etwas unterhalb ein damals schon weit in den 90er Lebensjahren befindlicher Herr, der jeden zweiten Tag zum Kuhn lief, dort seine zwei Gläser Apfelwein trank und dann wieder nach Hause ging. Wie schön.

Ich will nicht ausführen wer, wann sein Geschäft aufgab und auf der Bildfläche verschwand, jedenfalls ist lediglich die Gaststätte noch existent und wechselt, wie in Neu-Isenburg üblich, regelmäßig den Betreiber.

Warum ich das alles so genau beschreibe? Damit man versteht, dass ich als noch sehr kleines Kind alle diese Geschäfte zu Fuß erreichen konnte. Wenn am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig war, wurde ich losgeschickt um beim Simon, der „Fraa Krause“ oder beim Metzger einzukaufen. Beim Metzger bekam ich immer eine große Tüte mit Wurstendstücken für 2,-DM. Überall lagen dann die Zettel, auf denen die Einkäufe angeschrieben wurden, bis das neue Geld da war. Einem Kind konnte man das schlechter verwehren.

Irgendwie schafften es meine Eltern trotzdem ab und zu ausgelassen zu feiern. Feiern in unserem Haus waren fast schon legendär und bei den Freunden meiner Eltern sehr beliebt. Man kam gerne in unser Haus. Ein wesentlicher Grund dafür war die gute Stimmung, die meine Eltern ausstrahlten und die Lebensfreude, die meine Mutter ausmachte.

Meine Mutter – Hula hoop vorm Bücherschrank, beobachtet von meiner ältesten Schwester

Als ich in die Schule kam, begann meine Mutter halbtags zu arbeiten. Die Halbtagsstelle war in der Likörfabrik Wagner in Neu Isenburg. Hier wurde ein preisgekrönter Magenbitter mit dem Namen „Lappe“ und ein Magenelixier mit dem Namen „Popocatepetl“ hergestellt. Letzterer hatte 66Vol.%, wurde später auf 62% verschlankt.

Meine Mutter und eine weitere Dame, die nicht weit entfernt von uns in einem Wohnblock wohnte, hatten die Aufgabe die Produkte auf Flaschen zu ziehen und zu etikettieren. Der Schnaps war in großen Glasballons und wurde mittels eines Schlauches in die Flaschen gefüllt. Dazu musste mit dem Mund am Schlauch gesogen werden, bis der Fluss in Gang gekommen war. Durch abknicken des Schlauches wurde der Fluss unterbrochen. An Tagen, an denen oft angesaugt werden musste, war die entsprechende Dame zum Feierabend (in diesem Fall Mittags) blau. So kam es schon mal vor, dass meine Mutter unterwegs von ihrem, meist noch mit Taschen rechts und links am Lenker behangenen Fahrrad fiel. Jedenfalls war unser Haushalt immer gut versorgt mit den hervorragenden Produkten der Firma Wagner. Die Schließung der Firma fiel zeitlich mit meinem Eintritt in die Realschule zusammen, sodass meine Mutter einen neuen Job brauchte, und auch schnell bekam. Sie war fortan Modistin beim „Hut-Kopp“ in der Bahnhofstraße. Eine Hutmacherei mit kleinem Lädchen. Natürlich ohne Vorkenntnisse, auf Empfehlung einer Freundin und Ganztags.

Meine Liebe zum Kochen und die Fertigkeiten, die ich mir erworben habe, haben darin ihren Ursprung. Wenn meine Mutter viel zum Ansaugen hatte, musste es mit dem Essen schnell gehen. Rohgeröstete Kartoffelscheiben mit Zwiebeln und einem Spiegelei waren da meist angesagt. Dieses Gericht konnte ich dann auch bald herstellen.

Als sie dann ganze Tage, also bis 17:00Uhr arbeiten musste, blieb mir nichts anderes übrig, als mir selbst ein Mahl zu bereiten. Steaklets von Iglo, Fischfilet Bordelaise, Ravioli aus der Dose und Dererlei kamen häufig auf den Tisch. Bis ich mich eines Tages entschloss, mich an wirkliches Kochen zu wagen. Ich versuchte mit Erfolg, Gerichte meiner Mutter nach zu kochen. Das machte mir mehr Spaß als Hausaufgaben, und meine Freunde aus der Schule kamen auch gerne mit zu mir nach Hause, um mit mir in der Küche zu experimentieren. Wir machten dann Pommes oder Tintenfische, die sie mitbrachten und vieles mehr. So hatte das alleine klar kommen müssen auch sein Gutes. Ohne den Verdienst meiner Mutter wäre so manche Anschaffung nicht möglich gewesen. Erst recht kein Urlaub. Schon gar nicht im Ausland.


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