9) Das kleine Ich

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Das kleine Ich war vor allen Dingen erst einmal viel krank. Herr Dr. W. der mich in diese Welt geholt hatte, sollte auch in meiner frühen Kindheit ein häufiger Anlaufpunkt bleiben. Er hatte mir aufgrund der Häufigkeit meiner Besuche in seiner Praxis oder aufgrund seiner häufigen Besuche bei uns zu Hause, oder warum auch immer, den Spitznamen „der Knilch“ gegeben. „Was hat er denn wieder, der Knilch“ war oft seine Eingangsfrage.

Apropos Eingang. In der Praxis von Herrn Dr. W. gab es zwischen Wartezimmer und Behandlungsraum eine doppelte Tür. Diese war auf Wartezimmerseite mit gepolstertem Stoff bezogen und abgesteppt wie eine Daunenjacke, nur größer. Diese Tür hat mich immer total fasziniert und mich deshalb wahrscheinlich auch öfter von meiner Pein abgelenkt.

Vor meiner Schulzeit hatte ich sehr sehr oft Ohrenschmerzen, Mittelohrentzündungen und eine Mittelohrvereiterung. Es kamen die Masern und eine trockene Rippenfellentzündung. Letztere hatte in ihrem Verlauf auch noch einen negativen psychischen Aspekt, da mein geliebter Roller gestohlen wurde.

Mein geliebter Roller und animalprint Badehose

Die Windpocken gab es auch noch. Die kamen aber zum Glück erst während der verhassten Schulzeit und hatten so für ein paar Wochen Schulfreiheit gesorgt.

Grundsätzlich hatte das Krank sein für mich einen positiven Aspekt. Jetzt endlich konnte ich mir der uneingeschränkten Zuwendung und Fürsorge meiner über alles geliebten Mutter sicher sein. Liebesentzug, in Form von Ignoranz und Sprachlosigkeit gegenüber meiner Person, war übrigens die härteste aller Strafen, die meine Mutter für mich zur Anwendung bringen konnte.

Wenn ich krank war, durfte ich auf die Klappcouch im Esszimmer umziehen, damit ich nicht so alleine in meinem Zimmer war. Hier durfte ich morgens den „Frankfurter Wecker“ im Radio hören.

Der Frankfurter Wecker war in den Jahren 1952 bis 1967 eine in den Sommermonaten werktäglich ab 6.30 Uhr morgens ausgestrahlte Hörfunk-Frühsendung des Hessischen Rundfunks. Die Dialoge von Heiner, Phillip und Babett fand ich immer spektakulär.

Alles Spielzeug (viel war es nicht zu dieser Zeit) wurde in meine Nähe verfrachtet, damit ich von meinem Krankenlager aus spielen konnte. Das war so schön. Krank sein auf höchstem Niveau.

Noch während meiner Rippenfellentzündung, deren Genesung sich lange hinzog, kam plötzlich mein Vater zu mir und teilte mir mit, dass mein geliebter Roller draußen am Zaun angelehnt stehe. Er hätte da ja so einen Verdacht, wer der Übeltäter gewesen sein könnte. Ein ähnlicher Vorfall, einige Zeit später, als ein beim Spielen verschwundener roter Chevrolet der Firma Corgi Toys, nach einiger Zeit wieder auftauchte, erhärtete den Verdacht, doch Beweise oder gar ein Geständnis gab es nie.

Spielen fand im Wesentlichen draußen statt. Es ist wirklich erstaunlich wie viel Vertrauen die Eltern in eine vermeintlich heile Welt hatten, denn der Radius um das Haus, in dem wir spielten war doch erstaunlich groß.

Rüdiger, ein Jugendlicher aus der Nachbarschaft, mit dessen Familie meine Eltern wenig am Hut hatten, hatte eines Tages einen Bollerwagen an sein Fahrrad gebunden und lud mich zu einer Spazierfahrt ein. Ein toller Spaß. Wir fuhren bis zum Bahnhof von Neu-Isenburg.

Zu jener Zeit war auf dem Weg zum Bahnhof ein relativ großes Waldstück zu durchfahren. Jenes Waldstück in dem sich auch gerne mal ein Exhibitionist den zur Bahn eilenden jungen und nicht mehr ganz so jungen Frauen zur Schau stellte. Dieser Sachverhalt wurde von meiner Schwester bestätigt. Sie war ja der Meinung, dass sich der Aufwand für den Herren nicht lohne. Unser Ausflug jedenfalls war ein echt spannendes Abenteuer. Heute würde wahrscheinlich Rüdigers Unternehmung mit mir mit größter Skepsis betrachtet und am Besten gleich verboten.

Schon sehr früh ging ich alleine in das Neu-Isenburger Waldschwimmbad.

Ansicht vom alten Waldschwimmbad

Ich bekam von meinen Eltern eine Dauerkarte für die Sommersaison von Mai bis September und konnte somit kommen und gehen wann und wie oft ich wollte. Es gab ein Planschbecken, ein Nichtschwimmerbecken und das große 50m Wettkampfbecken mit Fünfmeter-Sprungturm. Außerdem war da das große Restaurant, welches vor und während des 2. Weltkriegs seine Blütezeit hatte. Die großen Säle strahlten dies zur damaligen Zeit immer noch aus. In einem davon, vom Schwimmbad aus links das etwas höhere Gebäude, fanden öfter einmal Tanzveranstaltungen statt, zu denen dann zahlreiche Nachbarn aus unserer Straße, gutgekleidet strömten. Ab und zu waren da auch meine Eltern dabei, da mein Vater wohl ein passabler aber oft unwilliger Tänzer war. Der wichtigste Teil des Restaurants war für unsereinen der Verkaufsstand an der Stirnseite. Hier gab es Eis, Süßigkeiten, Limonade und alles was das Kinderherz begehrte.

Das Schwimmbad hatte in unserer Familiengeschichte aber auch einen schwarzen Fleck, da der Bruder meines Vaters dort bereits vor dem Krieg während eines epileptischen Anfalls ertrunken war.

Trotzdem war mein Vater sehr schwimmbadaffin. Dies drückte sich dadurch aus, dass er seine Kinder in Richtung Schwimmkarriere trimmen wollte. Alle, außer meine große Schwester, wurden Mitglied im SCN (Schwimmclub Neu-Isenburg). Die Zweitälteste, meine neun Jahre ältere Schwester Helga hatte es hierbei zu durchaus beachtlichen Erfolgen bringen können. Sie wurde immerhin Zweite bei den Deutschen Meisterschaften in Würzburg in der Disziplin Brustschwimmen.

Das machte meinen Vater richtig stolz, und er plante natürlich ähnliches für mich, wenn ich denn endlich mal schwimmen könnte. Meine Welt war das Planschbecken und der vordere Bereich des Nichtschwimmerbeckens, in dem ich mich tummelte. Meistens allein, was in der heutigen Zeit völlig undenkbar wäre. Ich war dann der Held der Ozeane und als der Fernseher einzog, war ich Mike Nelson, der Held aus „Abenteuer unter Wasser“. Man machte sich da keinen Kopp, es gab ja schließlich Bademeister, die übrigens zu jener Zeit noch eine Autorität darstellten.

Zu jener Zeit verfügte meine Schwester Helga dank ihrer Schwimmerei über einen sehr stromlinienförmigen Schwimmerkörper. Es gab eine Städtepartnerschaft mit der englischen Stadt Hemel Hempstead auch in schwimmerischer Hinsicht. Meine Schwester und eine gleichaltrige Schwimmerin aus Hemel Hempstead liefen einmal vor mir durch das Waldschwimmbad. Das waren beeindruckende Erscheinungen. Superschmales Becken und ein Kreuz wie ein Preisboxer. Da fühlte ich mich gut beschützt.

Das Waldschwimmbad befand sich zwei Parallelstraßen von unserem Haus entfernt. Ein Verbindungsweg zwischen der Dreieichstraße und der Brunnenstraße verkürzte die Laufzeit auf fünf Minuten. Der Verbindungsweg hatte den Namen „Hundeschissgängelchen“ erhalten und machte seinem Namen alle Ehre. In der heutigen Zeit, wo fast jeder glaubt einen Hund haben zu müssen, wäre das Gängelchen wahrscheinlich überhaupt nicht mehr zu durchqueren. Kürzlich während eines Starkregenereignisses konnten die Wassermassen nicht über die Kanalisation abfließen, weil einige Mitmenschen die Beutel mit den Hinterlassenschaften ihrer Vierbeiner in den Regenablauf geworfen hatten. Soviel zum Thema rücksichtsvolles Zusammenleben. Jedenfalls gingen fast alle Mitbürger unserer Straße mal schnell im Bademantel und Schlappen durchs Gängelchen ins Schwimmen. Das war ganz normal.

Das „Hundeschissgängelchen“ existierte zu der Zeit als die Stadtgärtnerei Neu-Isenburg ein Gelände gegenüber von unserem Haus unterhielt. Auf dem Gelände stand in der Mitte ein kleines Backsteingebäude mit einem Brunnen. Vom „Hundeschissgängelchen“ aus war der Zugang. In besagtem Weg befanden sich auf einer Seite zahlreiche Büsche. Ein wunderbarer Spielplatz mit vielen Verstecken, aber auch mit vielen namensgebenden Hinterlassenschaften, was schon öfter mal dazu führte, dass man zu Hause plötzlich von einem strengen Geruch umgeben war, der aus der Kleidung strömte. Nix mit Klamotten mal eben in die Waschmaschine. Da kam echte „Scheissarbeit“ auf meine Mutter zu.

Die abstehenden Ohren haben sich später von alleine angelegt.


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