34) Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Oder doch?

/

Pünktlich am Mittwoch dem ersten September 1971 trat ich in der Hansaallee 18, erster Stock, in Frankfurt meine Ausbildung zum Technischen Zeichner an. In meiner Tasche befanden sich drei weiße Kittel, heute Labormantel genannt. Das war die allererste Lektion – Sauberkeit. Grafitstaub und Tusche waren die Hauptkontaminanten, und wenn die den Kittel verschmutzten, musste dieser sofort gewechselt werden. Zum Essen wurde der Kittel natürlich ausgezogen, denn Essensreste hatten darauf überhaupt nichts zu suchen. Deshalb galt: Ein Kittel am Körper, ein Kittel im Spint und einer zu Hause in der Wäsche. Es gab genaue Anweisungen über Länge des Kittels und der Anzahl und Lage der daran befindlichen Taschen.

An jenem ersten Tag wurde uns auch unser Platz in der Kantine zugewiesen. Diese befand sich im Hauptgebäude in der Gervinusstraße. Die Gebäude innerhalb des Carrees Gervinusstraße, Im Trutz, Grüneburgweg und Leerbachstaße bilden die Zentrale der Firma LURGI. Hier arbeitete der überwiegende Teil der über sechstausend Angestellten. Das Unternehmen war unterteilt in vier Gesellschaften, die LURGI Mineralöltechnik GmbH, die LURGI Hüttentechnik GmbH, die LURGI Chemie GmbH (später zusammengefasst als LURGI Chemie- und Hüttentechnik GmbH) und die LURGI Verwaltung GmbH. Zu letzterer gehörte auch die Ausbildungsabteilung für Kaufleute und Technische Zeichner.

Alle Dienstleistungen, die heutzutage weitestgehend von Zulieferern oder externen Dienstleistern erledigt werden, wurden damals im eigenen Hause selbst erledigt. Auch die Kantine war so eine Ausnahmeerscheinung. An weiß gedeckten Tischen wurde man bedient. Alle Beilagen wurden in Schüsseln auf den Tisch gestellt und ständig nachgefüllt, wenn etwas auszugehen drohte. Lediglich die Fleischportion wurde einem auf dem Teller serviert und war somit limitiert. Natürlich alles frisch zubereitet. Das Gästekasino, also der abgetrennte Bereich der Kantine, in dem die zahlreichen Kunden bewirtet wurden, hatte einen sehr guten Ruf und man munkelte, dass viele Besprechungen mit Kunden nur im LURGI-Haus stattfanden, weil man das gute Essen und vor allen Dingen den exzellenten Weinkeller genießen wollte.

Die Auszubildenden hatten ihren eigenen Bereich in der Kantine. Die Bedienung für unseren Tisch, an dem zirka 10 Personen Platz hatten, war eine etwas kräftigere Dame mit schlesischem Akzent. Sie hatte mich als guten Esser erkannt und war somit stets besorgt, dass es mir an nichts fehlte. Hier wurde der Grundstein für meine Übergewichtigkeit verankert. Da half auch die Tatsache, dass man von der Hansaallee zur Kantine und zurück zirka fünfhundert Meter Wegstrecke zu bewältigen hatte, nichts. Auch war es sehr wichtig, dass man schnell gegessen hatte, damit man noch fünfzehn Minuten im Park sitzen konnte. Schnell und viel essen führt bekanntermaßen zu einer satten Fettschicht. Ach so. Es bliebe noch zu erwähnen, dass der Normalpreis für das Essen für alle Angestellten zwei Mark im Monat betrug.

Die LURGI als Tochter der „Metallgesellschaft“ hatte ein derartiges Vermögen, dass der ganze Betrieb des Unternehmens nur von den Zinsen aus dem Vermögen gestemmt werden konnte. Wenn ein Auftrag als Nullnummer beendet wurde, war das kein Grund zur Sorge und schon gar kein Grund Leute zu entlassen. Die Mitarbeiter verdienten überdurchschnittlich gut und profitierten von allerlei zusätzlichen Annehmlichkeiten. So mancher Ingenieur hatte sich von den Reisespesen eines längeren Auslandsaufenthalts für ein Projekt, ein Haus gebaut ohne sein eigentliches Gehalt anzutasten. Während meiner Lehrzeit glichen sich die Angestellten auch in Sachen Kleidung. Man trug Anzug, entweder grau oder dunkelblau oder schwarz und Krawatte. In der Hand eine Aktentasche. So strömten alle um 7:30 Uhr hinein und um 16:30 Uhr hinaus. Gleitzeit kam erst wenig später.

Ich hatte plötzlich ein völlig neues, nie gekanntes Gefühl in mir. Nämlich zu einem ganz besonderen, privilegierten Kreis zu gehören. Unsere Ausbilderin im ersten Halbjahr war Fräulein Pönike. Sie war Anfang zwanzig und ziemlich hübsch. Sie trug gerne sehr kurze Röcke. Das führte dazu, dass einige meiner Kollegen immer bemüht waren in einem gewissen Abstand auf der Treppe hinter Fräulein Pönike zu laufen um einen Blick aus der sich daraus ergebenden Perspektive auf die wohlgeformten Beine und so, zu erhaschen.

Wir saßen nun an unseren Ausbildungs-Zeichenbrettern, die nur halb so groß wie die späteren waren. Ausgestattet mit den besten am Markt befindlichen Utensilien. Eine Schere, ein Spitzer und ein Handbesen zum Entfernen der Radierreste befinden sich heute noch in unserem Gebrauch und sind in einem Zustand wie vor vierundfünfzig Jahren. Zuerst wurde Normschrift gelehrt. Natürlich ohne Schablone. Tagelang. Fräulein Pönike saß mit überschlagenen Beinen auf ihrem Schreibtisch. Das machte es nicht einfacher sich zu konzentrieren. Diese Position verließ sie hin und wieder um den Einen oder Anderen zu korrigieren, und wenn der Leiter der Ausbildungsabteilung, Herr Linsert erschien. Dieser sollte noch eine gravierende Rolle in meinem weiteren Leben spielen.

Erst als man der Meinung war, dass unsere Normschrift gut genug war, damit unsere Beschriftung auf künftigen Zeichnungen von der ganzen Welt lesbar war, kam es zu ersten Zeichnungen. Parallel hatten wir jede Woche sogenannten Werkunterricht. Hier wurden alle notwendigen naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnisse vermittelt. Das wurde in einer derart intensiven Art und Weise getan, dass für uns der wöchentliche Besuch der Berufsschule nur der eventuellen Vertiefung des Wissens aber meist der Langeweile diente.

Herr Linsert vermittelte einen ziemlich autoritären Ausbildungsstil. Sauberkeit und Disziplin waren die Hauptaspekte. Aus meiner kurzen Karriere als Schlagzeuger hatte ich das Schlagzeugsolo von „In a gadadavida“ herübergerettet. Dies konnte ich auf jeglichen Gegenständen, die mir zur Verfügung standen performen. Zu einer dieser Performances auf dem Mobiliar der Ausbildungsabteilung platze Herr Linsert in unseren Zeichensaal herein und machte mich derart zur Sau, dass ich beinahe geweint hätte. Jetzt waren die Positionen geklärt. Wer das Sagen hat und wer zu gehorchen hatte, wenn man hier am Ende einem ordentlichen Beruf vorweisen wollte.

Ich würde Herrn Linsert aber noch von einer ganz anderen Seite kennen lernen. Aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Gewundert hatte mich nur, dass jemand wie Fräulein Pönike und die andere Dame im Büro, deren Name mir nicht mehr einfällt, unter so einem Chef derart gut gelaunt ihrer Arbeit nachgehen konnten.

In diesem ersten Halbjahr gab es dann gleich mal ein sogenanntes Lehrlingsfest. Das erste Mal fand es in der Hansaallee statt. Wir bekamen zum Dekorieren drei Tage und alle technischen Hilfsmittel ,die dafür notwendig waren zur Verfügung gestellt. Beim zweiten Mal wurde ein Schiff auf dem Main gemietet. Inklusive Diskjockey, dessen Schallplatten in einer Schleuse stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Das dritte Mal wurden wir mit Bussen in den Taunus gefahren, wo in einem Hotel eine Diskothek für uns aufgebaut war. Das sind einfach schöne Erinnerungen an eine Arbeitswelt, die nicht so war wie die heutige. Da brauchte man keine Seminare und Workshops zu Thema Worklife-Balance und Resilienz.

Wenn das Angebot in der Kantine nicht so unserem Geschmack entsprach, gingen einige meiner „Lehrlingskollegen“ und ich gerne in ein Lokal auf der Eschersheimer Landstraße. Das „Penthouse“, so der Name des Lokals, hatte viel Zulauf von LURGI Mitarbeitern. Das auf der anderen Straßenseite liegende Lokal mit dem Namen „Mutter Courage“ ebenfalls, wie ich in meinem späteren Arbeitsleben erfuhr. Wir, das waren Joachim, den wir aufgrund seiner geringen Körpergröße „Mini“ nannten, der etwas ältere und später ins Lehrjahr eingestiegene Klaus, dem eine Affäre mit Uschi, die von sich behauptete keinen Orgasmus bekommen zu können, war ebenfalls dabei. Rolf, ebenfalls etwas älter und Nachzügler. Mit ihm war ich zu dieser Zeit ziemlich dicke. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass er mal der zweitmeist gehasste Mensch in meinem Leben werden würde. Angelika, Traudel und Eva rundeten die Mädelsgruppe ab.

So saßen wir öfter mal in der Mittagspause im „Penthouse“, tranken nicht alkoholische Getränke und aßen Burger. Zu dieser Zeit war noch nix mit „McDonalds“ oder „Burger King“. Die waren nur in ihrem Ursprungsland, den USA, ein Begriff. Somit waren die Burger ein für uns noch ziemlich neues Gericht. Aber total cool und durchaus wohlschmeckend und sättigend. Die schnelle Zubereitungszeit dieser Mahlzeit in Ergänzung durch Pommes und Ketchup, kam uns sehr zu Pass, da wir ja nur eine halbe Stunde inclusive Hinweg und Rückweg zur Verfügung hatten. Außerdem begleitete unsere Mahlzeit immer die gleiche Musik aus der Musikbox. Die Zeit reichte jedenfalls immer für „Riders on the storm“, „Your so vain“, „American Pie“ und „Maggie May“. Bis heute sehe ich mich mit meinen Ausbildungskollegen im „Penthouse“ sitzen, wenn ich „Riders on the storm“ von den „Doors“ höre.

Bei den Jungs in meinem Lehrjahr bildeten zwei weitere Klause, zwei Norberts und zwei Joachims den harten Kern. Einer der Norberts war Sohn einer Familie, die in Sachsenhausen eine der letzten wirklich ursprünglichen Apfelwein-Wirtschaften hatten. Aber die Tatsache, dass der Nachwuchs in unserem Lehrjahr war, kündigte bereits an, dass es keine weiterführende Apfelwein-Generation geben wird.

Überhaupt gab es eine sehr starke Gruppe aus Sachsenhausen. Der Klaus, zwei weitere Joachims, Peter, den keiner mochte und der vierzig Jahre später mein Arbeitskollege sein würde und ein weiterer Peter, der in der Sachsenhäuser Rockerszene unterwegs war. Er war ein herzensguter Kerl und es war für mich völlig unverständlich, wie er in dieser Szene klar kam. Ich kannte die Sachsenhäuser Rockerszene, da ich mit fünfzehn über meinen Klassenkammeraden Kurt zu zwei Partys, also Rocker Partys, eingeladen war. Schon damals war für mich nicht nachvollziehbar, was die friedvollen, halt wie Rocker gekleideten Anwesenden dann doch wieder zu Gewaltexzessen antrieb. Ich sollte auf ein Mitglied der Sachsenhäuser Rockerszene stoßen, der mir Jahre später ebenfalls zu denken gab.

Rolf war wie gesagt etwas älter und hatte schon einen Führerschein und ein Auto. Zuerst einen VW Käfer, der immer nur auf drei Zylindern lief, und danach einen FORD M12 mit Lenkradschaltung. Wenn wir Berufsschule hatten holte er mich morgens ab. Das war nur ein kleiner Umweg für ihn, da er in Zeppelinheim wohnte. Etliche Male kamen wir aber nur bis an den Rand von Frankfurt. Wir beschlossen dann, an der Ampel stehend, dass die Zeit in der Berufsschule vertane Lebenszeit ist, da wir ja sowieso nur wiederholten, was wir schon im Werksunterricht gemacht hatten. So bogen wir ab und machten einen Ausflug. Mal in den Spessart, mal in den Taunus, mal an den Rhein und so weiter. In der Schule merkte das keiner. Meine gefälschte Entschuldigung wollte niemand sehen und Rolf war alt genug sich selbst eine zu schreiben.

Nach einem halben Jahr im weißen Kittel änderte sich die Arbeitskleidung nicht nur farblich sondern auch im Umfang. Wir wurden mit blauer Arbeitskleidung versorgt. Wieder in ausreichender Menge um immer adrett daher kommen zu können. Auch hier in der Lehrwerkstatt, wo wir nun eineinhalb Jahre zubringen würden. Die Lehrwerkstatt befand sich im Stadtteil Fechenheim. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur umständlich zu erreichen. Damals hielt die Straßenbahn zwar direkt vor dem Eingang zum Werksgelände, aber mit zwei Mal Umsteigen war man eineinhalb Stunden für eine Strecke unterwegs. Also fuhr ich mit meiner Kreidler. Da war es nur eine knappe Stunde, trotzdem es die Autobahn 661 noch nicht gab, lediglich die „Kaiserleibrücke“ über den Main war schon fertig. Ich fuhr bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. Auch bei Schnee, mit den Füßen am Boden. Zwei Mal kam es auf jener „Kaiserleibrücke“ zu Glatteis. Nicht ungewöhnlich auf Brücken. Da haute es mich einmal dermaßen hin. Bei dem Versuch aufzustehen, rutschte ich immer wieder aus, und wenn ich meine Kreidler aufstellen wollte, lagen wir Beide gleich wieder auf dem Boden. Es dauerte mehr als eine Stunde bis ich mein Moped teils hinterherziehend oder übers Eis schiebend, wieder einigermaßen rutschfesten Boden unter den Füßen hatte.

Die Lehrwerkstatt war in einem Gebäude der LURGI Werkstätten untergebracht und hatte eine kleine eigene Kantine über den Umkleide- und Sanitärräumen. Die Werkstätten befanden sich in der Gwinnerstraße in Frankfurt Fechenheim. Alle Gebäude auf der rechten Seite der Straße gehörten zu den LURGI Werkstätten. Die Backsteingebäude stehen heute noch, sind aber für allerlei andere Geschäfte vermietet. Auf der anderen Straßenseite befand sich die LURGI Forschung und Entwicklung. Auch diese Gebäude existieren noch, und in einem Teil davon hatte ich bis vor ein paar Jahren meinen Arbeitsplatz. Alle Firmen, die bei der Zerschlagung der LURGI entstanden, betrieben dort weiterhin Forschung und Entwicklung.

Dem Unternehmen erschien es wichtig, dass die künftigen Konstrukteure den Umgang mit den Materialien, aus denen bald die Konstruktionen bestehen würden, selbst am eigen Leibe erlebt zu haben. Eine Idee zu bekommen über Aussehen, Gewicht, Formbarkeit und Gestaltungsmöglichkeiten der Werkstoffe. Werkstoffkunde spielte nun im Werksunterricht eine große Rolle. Wie verändern sich Werkstoffe unter Hitzeeinwirkung oder Kälte.

Die ersten Wochen vergingen mit rein manuellen Tätigkeiten. Es wurde gesägt, geschruppt, gefeilt, geschlichtet und geschabt. Lediglich Löcher durften von einer Maschine gebohrt werden. Wenn man an einer Maschine etwas zu arbeiten hatte, musste man eine Kappe, eine hässliche Schildmütze tragen. Das diente zum Schutz der wallenden Haare vor Einzug in die Maschine. Das blöde Schild an der Kappe nervte mich und ich drehte es nach hinten. Für mich machte das sicherheitstechnisch keinen Unterschied. Für der Meister, den Chef der Lehrwerkstatt machte es jedoch scheinbar einen großen Unterschied. Durch den ständigen Lärmpegel in der Werkstatt hatte ich dessen Herannahen nicht bemerkt. Plötzlich und völlig unerwartet brüllte mir dieser ins Ohr, dass man hier nicht bei den Hottentotten sei und wo das hinführen soll, wenn hier jeder seine eigene Kleiderordnung umsetzten wolle. Der Versuch das Argument mit dem geringen Einfluss auf die Sicherheit zu platzieren, hatte nur eine Erhöhung des Schallpegels aus seinem Mund zur Folge. Da war es wieder das Ding mit der Disziplin. Vorschrift ist Vorschrift und wird nicht unaufgefordert hinterfragt.

Neben Bohren und den anderen handwerklichen Kram lernten wir Präzision und wie man diese misst. Wir lernten etwas über Maß Toleranzen und deren Sinn und Nutzen. Wir lernten Drehen, Fräsen, Hobeln. Und auch hier im Bereich der Werkzeugmaschinen gab es einen sehr freundlichen, sozial stark engagierten Ausbilder, der zur rasenden Furie wurde, wenn jemand den Einstellschlüssel im Futter der Drehbank stecken ließ. Er zeigte daraufhin jedem Delinquenten das Einschlagloch in der Wand, wo das letzte Mal ein Einstellschlüssel eingeschlagen war, als man die Maschine in Gang setzte und selbiger noch im Futter steckte. Wäre da jemand in der Flugbahn gewesen, wäre der wahrscheinlich tot.

Wir lernten alle Arten des Schweißens. Hier entwickelte ich mich zum Experten für Aluminium schweißen im WIG-Verfahren, und wieder erhielt ich eine kostenlose Lehrstunde oder sagen wir besser Leidstunden in Sachen Arbeitskleidung. Ich wusste nachdem meine Haut hochgradig im Bereich des Dekolletees verbrannt war, wie wichtig es ist, die Kleidung bis ganz oben geschlossen zu haben wenn man schweißt. Und nachdem ich abends mit verblitzten Augen im Bett lag, dass man nicht allzu oft in den Lichtbogen beim Starten der Schweißelektrode schauen sollte.

Es gab eine Schmiede. Hier lernten wir auch Kunstschmieden, und jeder durfte sich etwas für zu Hause schmieden. Meine beiden schmiedeeisernen Standaschenbecher haben lange das Zuhause meiner Eltern geschmückt und machten mich stolz.

Wir machten in dieser Zeit ein Praktikum in der „Bockenheimer Eisengießerei“. Im Lehrjahr über uns war ein junger Bursche. Er war Sohn einer Metzgerdynastie in Fechenheim, einem Ortsteil von Frankfurt. Er hatte einen Führerschein, kam aber normalerweise mit dem Fahrrad, da die Lehrwerkstatt auch in Fechenheim war. Zum Gießerei-Praktikum allerdings fuhr er mit dem dunkelblauen 280er Mercedes seines Vaters. Er hatte dort als Einziger kein Parkplatzproblem, denn er durfte auf dem Werksgelände parken. Der Grund dafür war, dass die Pförtner dachten, es wäre jemand von der Geschäftsleitung. Auf gar keinen Fall ein Lehrling aus dem zweiten Lehrjahr vor dem man da seinen Hut bei der Durchfahrt zog.

In dieser Gießerei, die damals schon kurz vor der Schließung stand und deren Zustand eher an einen überstandenen Bombenangriff erinnerte als an einen Platz, an dem Menschen arbeiteten, gab es bestimmte Rituale. Jeder der Arbeiter hatte einen Kühlschrank. Dieser wurde allmorgendlich mit Bier bestückt, das im Laufe des Arbeitstages von den menschlichen Organismen in Schweiß und Urin verwandelt wurde. Am Morgen, wenn die erste Form gegossen war, wurde eine Flasche Doornkaat auf die noch heiße Form gestellt. Der erwärmte Inhalt der Flasche wurde dann reihum geleert. Das sollte für den Resttag Glück bringen oder was auch immer. Jedenfalls hat das schön geknallt in der Birne. Aber auch das ging vorbei, und man wusste wieder, wie schön man es in unserer Lehrwerkstatt hatte.

Wir bauten zwar unter anderem Gartenzäune und Gitter für die Anwesen verdienter LURGI Mitarbeiter im oberen Management, aber halt nicht nur. Eine Probenahmeanlage für eine Sintermaschine war ein ziemlich großes und anspruchsvolles Projekt, das auch räumlich viel Platz in unserer Lehrwerkstatt beanspruchte. Der hauptsächlich hergestellte Artikel waren kleine Anlagen zum Demineralisieren von Wasser. Hier war Sauberkeit in der Verarbeitung gefragt, und es umfasste in der Herstellung so ziemlich das ganze Spektrum an Metallverarbeitung. Also ideal für die Ausbildung in der Metallverarbeitung.

Wir hatten nun ein halbes Jahr in der Lehrwerkstatt verbracht und waren jetzt das zweite Lehrjahr. Das bedeutete, wir waren nicht mehr die Kleinen und hatten zwei Lehrjahre über uns. In der Lehrwerkstatt waren wir nun die Erfahrenen und griffen den Neuen gerne unter die Arme. Wir machten die gleichen blöden Witze, die man mit uns ein Jahr zuvor gemacht hatte. Zum Beispiel jemanden loszuschicken, in der Materialausgabe die Gewichte für die Wasserwaage zu holen und dergleichen. Besonders gerne griffen wir einem Mädel aus dem ersten Lehrjahr mit Vornamen „Kiki“, sie hieß tatsächlich so, unter die Arme. So manch einer hätte das gerne auch physisch getan, denn sie war ein unfassbar schönes Geschöpf. Unser Meister in der mechanischen Verarbeitung musste mehrfach die Traube von Begattungswilligen,die sich um Kiki scharten, auseinander treiben. Kiki konnte aus alten Silbergabeln ganz tolle Armreifen herstellen. Meine damalige Freundin gab mir eine silberne Gabel mit und Kiki verwandelte die Gabel in einen tollen Armreifen. Ich glaube, er ist immer noch im Besitz meiner ersten Frau, denn die Gabel stammte aus dem Besteck ihren Eltern.

Nach eineinhalb Jahren unserer Lehrzeit stand die Zwischenprüfung an. Wir hatten verstärkt Werksunterricht, denn die LURGI hatte einen Ruf zu verlieren. Regelmäßig waren die Auszubildenden der LURGI die besten Jahrgänge bei den Prüfungen, und das sollte natürlich so bleiben. Die Zwischenprüfung war halt auch eine Prüfung. Ich hasse Prüfungen. Meine Erfahrungen waren halt noch aus der Schulzeit geprägt. Deshalb rechnete ich mit nichts Gutem. Der große Vorteil war, dass die Zwischenprüfung im Prinzip ablief, wie die spätere Prüfung am Ende der Ausbildung. Man konnte sich schon mit den Örtlichkeiten und den Gegebenheiten vertraut machen.

Das Ergebnis wurde jedem einzeln in einem Gespräch mit den Ausbildern und Herrn Linsert dargelegt. Was war gut und wo gab es Schwächen, die es in der restlichen Ausbildungszeit auszumerzen galt. Mein Prüfungsergebnis war eine „Zwei“. Es wäre sogar noch besser gewesen, wären da nicht diese kleinen Schusseligkeiten gewesen. Die waren meinem Zustand während der Prüfung zu verdanken. Wer Angst hat zu versagen, versagt. Herr Linsert bat mich am Nachmittag nochmals zu einem Gespräch in sein Büro. Dort geschah dann etwas gänzlich Neues für mich. Meine Leistung bei der Zwischenprüfung wurde explizit gelobt. Er, Herr Linsert, war daher zu der Überzeugung gelangt, dass ich durchaus in der Lage sein werde, meine Prüfung ein Jahr früher als im Ausbildungsvertrag vorgesehen zu machen. Also gemeinsam mit den Abiturienten. Ich weinte vor Glück. So etwas hatte es in meinem Leben bisher nicht gegeben. Lob und Anerkennung. Scheinbar war ich, entgegen der Meinung meiner früheren Lehrer, doch nicht dumm. Das war das erste und nicht das letzte Mal, dass ich Herrn Linsert von seiner freundlichen, wohlwollenden Seite kennen lernen durfte. Allmählig wurde mir auch seine Strategie bewusst. Motto: „Nur die harten komm´n in Garten“. Durch seine harte, autoritäre Art am Anfang wurde schon mal gesiebt. Wer nicht bereit war sich unter zu ordnen, ging meist von selbst. Mit dem Rest konnte er dann vernünftig und ungestört arbeiten.

Wir waren dann noch ein halbes Jahr in der Werkstatt zu Gange. Die letzten Wochen dort fielen mir zusehends schwerer. Bei dem Geruch von verbrannter Bohrmilch, wie er beim Drehen und Fräsen entstand, wurde mir übel. So war ich froh als das vorbei war.

Der letzte Abschnitt galt dem Sammeln von Erfahrungen in der Praxis. Der Abschnitt war für mich jetzt nur noch ein halbes Jahr lang. Davon ging auch noch die Zeit für die Berufsschule und die Prüfungsvorbereitung ab. Der Zeitraum sollte jeweils drei Monate in einer technischen Abteilung der LURGI umfassen.

Zuerst kam ich in eine Abteilung der LURGI Mineralöltechnik. Meine wesentliche Arbeit hier: Datasheets für Apparate, Behälter und Kolonnen zeichnen und Tabellen ausfüllen. Gähn. Nach vier Wochen ging ich zu Herrn Linsert und fragte ihn, ob er darin irgend einen essentiellen Lerneffekt sähe. Er sagte direkt zu mir: „Ich ruf da an, die spinnen wohl. Ich gebe Bescheid, wenn ich was Neues hab, so lange kannst du hier behilflich sein. Du gehst da nicht mehr hin.“

Am nächsten Tag rief er mich zu sich, um mir zu verkünden, dass er etwas bei einer Tochtergesellschaft in Bad Homburg gefunden hätte. Wie er gesehen hätte, verfügte ich ja jetzt über ein Auto, denn mit öffentlichen Verkehrsmitteln war das äußerst mühsam. Ob ich dazu bereit wäre. Ja, klar, kein Problem. Ich fuhr also zu genannter Adresse um mich vorzustellen.

Die TKV, so hieß die Tochtergesellschaft, war in einer stattlichen Villa am Waldrand oberhalb des Kurparks untergebracht. Hier hätte man mit Sicherheit kein technisches Büro vermutet. Der Ort war tatsächlich am besten mit einem eigenen Fahrzeug zu erreichen. Die Kilometer bekam ich selbstverständlich extra vergütet. Das Auto war auch wichtig, da ich zur Erlangung eines Mittagessens zu einem etwas entfernten Schnellimbiss fahren musste. Hier hatte man eine dreiviertel Stunde Mittagspause, da die Essensbeschaffung ja eingerechnet werden musste- Das Angebot des Schnellimbiss war in Gänze hervorragend, was sich in meinem Gewicht bemerkbar machte.

Bei der TKV wurden Förderanlagen für Sintermaschinen konstruiert. Das war schon was anderes als bei der „Öl“. Die ersten drei Wochen bekam ich Bleistiftzeichnungen der Ingenieure um diese in Tusche nachzuziehen. Ich wurde beim dortigen Chef vorstellig um ihm zu erklären, dass in Tusche zeichnen im ersten Lehrjahr vermittelt wurde und es jetzt um eine Erweiterung des Wissens gehe. Er versprach Besserung, die aber nicht eintrat. Also fuhr ich wieder zu Herrn Linsert. Der hörte sich das an und es zog wieder Zornesröte in seinem Gesicht auf. Er versprach mir das zu klären und ich möge bitte nach Bad Homburg fahren. Die Klärung und deren Ablauf hätte mich sehr interessiert. Jedenfalls schien sie sehr wirkungsvoll gewesen zu sein. Als ich in Bad Homburg ankam, rief mich der dortige Chef sofort zu sich. Er fragte mich sehr freundlich, was ich mir denn vorstellen würde tun zu wollen. Ich schilderte, dass ich schon daran interessiert wäre eine Förderanlage konzeptionell auszulegen und zu konstruieren. Er gab mir am gleichen Tag eine solche Aufgabe. Natürlich nicht für ein aktuelles Projekt, sondern ein Phantasieprojekt um zu lernen. Das Ergebnis schien alle zu überraschen. Jedenfalls bekam ich eine solche Aufgabe danach für ein aktuelles Projekt zugeteilt. Jetzt fühlte ich mich richtig wohl.

Ich hatte dort einen englischen Kollegen, Allen Chambers. Er fuhr einen aus England mitgebrachten Mini mit Rechtssteuerung. Wir hatten uns ein wenig angefreundet und so kam es, dass mein Freund Willi seinen Mini kaufte. Wir machten uns einen Spaß daraus mit dem Mini durch Neu Isenburg zu cruisen. Auf der vermeintlichen Fahrerseite saß ich mit den Füssen auf dem Armaturenbrett. Das führte ständig zu erstaunten Blicken der anderen Verkehrsteilnehmer.

So verbrachte ich meine verbleibende Lehrzeit bei der TKV. Die Prüfung nahte und wir waren wieder bestens vorbereitet. Das Ergebnis war „Praxis“, eine Eins und „Theorie“ eine Drei plus. Im Schnitt eine bessere Zwei. Das war die Geburtsstunde eines enorm gewachsenen Selbstwertgefühls.

Nächster Block Anfang Dezember


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Letzte Beiträge