Wie im letzten Kapitel erwähnt, ging es direkt am nächsten Tag nach der Konfirmation in´s Landschulheim nach Waldmichelbach im Odenwald. Die Fahrt mit dem Bus dort hin war schon sehr schön. Mal weg von zu Hause. Nicht wie mit dem Schwimmclub, nur übers Wochenende, sondern gleich zwei Wochen. Das war schon irgendwie aufregend.
Dort angekommen wurden wir im Haus verteilt. Jeweils vier Jungs, bzw. vier Mädels teilten sich ein Zimmer. Mit mir im Zimmer waren Manfred, Dieter und Klaus. In der Klasse saßen wir ja auch zusammen. Mädchen und Jungen waren durch zwei Stockwerke geteilt. Das sah man als notwendig an, in Zeiten der sexuellen Befreiung. Man wollte ja nicht wegen der Vernachlässigung der Aufsichts- und Sorgfaltspflicht im Nachhinein belangt werden. Denn da war schon eine gewisse Neugier geweckt, schließlich waren auch andere Klassen zur gleichen Zeit im Landschulheim. Somit gab es auch mal andere Mädels, als die, die man jeden Tag in der Klasse sah.
Auf Geschlechtertrennung wurde sehr großen Wert gelegt. Andererseits sah man sich aber auch gezwungen, irgendetwas zu unternehmen, um den jungen Menschen gerecht zu werden. So gab es in einem einem Turnsaal ähnelnden Raum zwei oder drei mal eine Art Disco. Eine Stuhlreihe rechts und eine Stuhlreihe links. Rechts die Jungs, links die Mädels. Da wurden dann Lieder gespielt, die die Aufsichtspädagogen für zeitgemäß und ausreichend ungefährlich hielten. Also nicht „Hey Jude“ von den Beatles oder „Atlantis“ von Donovan. Das hätte ja jeweils sieben Minuten Stehblues bedeutet. Mit unvorstellbaren Folgen. „Ob-La-Di Ob-La-Da“, „Eloise“ und „Oh happy Day“ schienen da viel besser geeignet. Die Musik lief und die Mädels wurden nun aufgefordert einen Tanzpartner nach Belieben auf der gegenüberliegenden Seite zu wählen. Als erste kamen dort die, na sagen wir mal, weniger scharfen Schnitten an. Mein Freund Dieter, der neben mir saß, wurde von eben einer solchen, von uns liebevoll „Plantschkuh“ genannten, per Tritt auf den Fuß, zum Tanz aufgefordert. Also fügte er sich in sein Schicksal. Körperliche Gebrechen als Ausrede funktionieren in diesem zarten Alter nur bedingt. Nach dem Ende des schon halb abgespielten Liedes war er auch wieder auf seinem Platz.
Es gab eine Zeit, da gab es tatsächlich gleich drei Jungs mit meinem Vornamen. Damals waren es nur noch zwei. Der Andere hatte schon seit geraumer Zeit eine feste Freundin. Eine von zahlreichen Connys, die es zu jener Zeit gab. Diese Beziehung endete auch erst nach vielen Jahren, im Erwachsenenalter. Conny kannte sich aus. Sie hatte schon geküsst und wer weiß was noch. So glaubten wir jedenfalls. Sie hatte eine Schulfreundin, Sylvia. Jene Sylvia gehörte unter die Rubrik scharfe Schnitte. Sie war halt einfach sehr hübsch. Sie war so hübsch, dass viele sie begehrten, aber keiner sich so richtig ran traute. Es war mal wieder Wandertag. Wir liefen alle ca. vier Stunden durch Wälder und über Hügel des Odenwalds. Plötzlich lief Sylvia neben mir. Eine ganze Weile. Puls hundertfünfzig. Wir sprachen wenig, und wenn dann irgend einen belanglosen Kram. Völlig unerwartet nahm sie meine Hand. Puls zweihundert. Wir liefen händchenhaltend, so dass es jeder sehen konnte, bis zurück zum Landschulheim. Abends vor dem Schlafengehen hielten wir uns sogar im Arm. Puls zweihundertfünfzig. Conny, die erfahrene, meinte, dass es ja dann jetzt wohl auch Zeit für einen Kuss wäre. Jetzt, wo wir schon so vertraut miteinander waren. Dazu kam es nicht. Dazu sollte es auch nie kommen.
Ich lag im Bett und konnte nicht schlafen. Ich grübelte, warum sie ausgerechnet mich auserwählt hatte. Garnichts hatte ich unternommen, um sie zu gewinnen und dann das. Ich begann über das nachzudenken, was noch kommen könnte in den nächsten Tagen. Und da war es plötzlich. Ein Gefühl, das ich noch öfter in meinem Leben haben würde. Hier spürte ich es zum ersten Mal ganz bewusst. Ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Im Kopf spielten sich plötzlich nur noch negative Szenarien in Bezug auf die Beziehung ab. Ich glaubte plötzlich verspürt zu haben, dass Sylvia sich von Conny unter Druck gesetzt gefühlt hätte. Man nennt es wohl „Self-fulfilling prophecy“, wenn genau das eintritt, was man sich zurechtgegrübelt hat.
Am nächsten Morgen spürte ich deutlich, oder glaubte zumindest zu spüren, dass Sylvia alles andere als meine Nähe suchte. Und so blieb das auch in der restlichen Zeit im Landschulheim. Alles war wie vor dem denkwürdigen Tag. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass ich völlig von der Rolle war. Adrenalin, das sich nur sehr, sehr langsam abzubauen schien.
Ich ging also wieder wie vorher, zusammen mit meinen Freunden und ein paar Mädels, die nicht ins Beuteschema passten, den üblichen Freizeitaktivitäten nach. Im Heim war das im Wesentlichen Tischtennis, draußen gingen wir immer in ein Café. Dort tranken wir das, was uns zugestanden wurde und hörten Musik aus der Jukebox. Diese unterschied sich von der Musik der Diskoabende im Wesentlichen dadurch, dass sie uns gefiel. Es gibt Lieder, die gehören an einen bestimmten Ort und sind für den Rest des Lebens unweigerlich damit verbunden. Während meiner Lehrzeit verbrachten meine Lehrkollegen und ich, sehr oft die Mittagspause in einem Burger-Lokal. Da gab es auch eine Jukebox. „Your so Vain“, „American Pie“ und „Riders on the Storm“ sind in die Erinnerung eingemeiselt wie in einen Grabstein. Im Falle des Cafés in Waldmichelbach waren das „The Israelites“ von Desmond Dekker, „In the Year 2525“ von Zager & Evans und „in the Ghetto“ von Elvis Presley.
Ein letztes Highlight zum Schluss. Die mitgereisten Pädagogen riefen zur Nachtwanderung im Odenwälder Umland auf. Klang schon ein bisschen aufregend. Man wartete also bis zum Eintritt der Abenddämmerung, und dann ging´s los. Ich hatte damit die Hoffnung verbunden, dass Sylvia im Schutze der Dunkelheit sich vielleicht zu ihren Beweggründen äußern würde. Das geschah nicht. Plötzlich bemerkte ich, dass mein Freund Klaus nicht mehr da war. Dann viel auf, dass auch ein gewisser Joachim fehlte. Es erging Meldung an das pädagogische Fachpersonal. Man beriet sich kurz. Zu kurz, wie wir im Nachhinein feststellten. Dann erging der Befehl zum Rückzug ins Heim. Man stelle sich die Situation mal heute vor. Sofort hätte jemand oder mehrere jemands gleichzeitig den Notruf, die Polizei oder gar die Eltern angerufen. Wahrscheinlich wäre eine Lawine ungeahnten Ausmaßes losgetreten worden. Aber es gab ja nur ein an ein Kabel gebundenes Telefon irgendwo und bestimmt nicht hier und jetzt.
Während des geordneten Rückzugs wurde viel spekuliert, was wohl geschehen sein könnte. Plötzlich einige spitze Aufschreie des Entsetzens. Vor der Gruppe tauchten unerwartet die zwei Vermissten auf. Mit schrecklichen blutigen Gesichtern und was man sonst noch schlecht schminken konnte. Meine Kumpels und ich hatten eigentlich gleich erkannt, dass hier stümperhaft aufgebrachte Theaterschminke im Spiel war. Trotzdem waren einige Mitschüler von dem Szenario völlig traumatisiert. Selbst als die pädagogischen Fachkräfte versuchten, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen, war den Kindern kein Lachen mehr zu entlocken. Wir hatten uns Klaus geschnappt und ihn ausgequetscht, wie es denn zu dem Plan kam und wer das ausgeheckt hatte. Zurück im Heim gings ab ins Bett. Auch wenn einige noch nicht über den erlittenen Schock hinweg waren. Es war jetzt spät und dunkel, also Zeit zum Schlafen.
Es kann sich vielleicht jeder vorstellen, was in der heutigen Zeit, der Zeit der Helikopter-Eltern, los gewesen wäre. Forderungen nach Schmerzensgeld, Unterlassungsklagen, keine Ahnung was alles noch. Wahrscheinlich hätten sie jahrelang die Kosten für den Einsatz eines Hubschraubers mit Nachbildkamera abbezahlt. Damals war das irgendwie OK. Was dich nicht kaputt macht, macht dich härter. Eine gute Vorbereitung auf das spätere Leben.
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