Italien war grundsätzlich der Inbegriff für den Sommerurlaub, denn der war auch der einzige wirkliche Urlaub im Jahr. Da wollte man keine Experimente machen. Man wusste, was man zu erwarten hatte und wusste, das wird die Erwartungen an Erholung, Geselligkeit und kleinen Abenteuern ausreichend erfüllen.
Es gab nur zwei Ausnahmen. Ich habe keine Ahnung, was Tante Liesel und Onkel Heinz dazu bewog, einen Urlaub im sehr weit entfernten Spanien zu verbringen. Es war wohl die Neugierde. Ein Arbeitskollege von Onkel Heinz hatte einen Bungalow in Castelldefels zwischen Tarragona und Barcelona gelegen. Direkt am Meer. Das hörte sich sehr gut an. Jener Kollege konnte sogar für unsere Familie einen anderen Bungalow in der gleichen Anlage besorgen. Nun denn, gesagt getan.
Die Fahrt dort hin war lang, sehr lang und zäh. Wesentliche Autobahnverbindungen in Frankreich, wie zum Beispiel zwischen Mühlhausen und Lyon waren noch nicht existent. Und genau so war es auch in Spanien. Da gab es nur ein ganz kurzes Stück von der Grenze zu Frankreich bis weit vor Barcelona. Der Rest war auf der Küstenstraße zu bewältigen. Für mich war es ganz schön. Mal neue Eindrücke, denn die Strecke nach Italien hatte ich bereits so sehr verinnerlicht, dass ich an jedem Punkt genau wusste, wie weit es noch war und wie lange ich noch still sitzen musste. Kurz vor Erreichen des Ziels musste man auch noch die Innenstadt von Barcelona durchqueren. Umgehungsstraßen gab es nicht. Hier hatten sich dann mein Onkel und mein Vater mehrfach so sehr verfahren, dass sie drei mal wieder am selben Punkt rauskamen. Die Nerven lagen blank. Meine Mutter und ich hatten genau erkannt, wo der Fehler gelegen hatte, aber keiner sagte etwas, denn man wusste, das führt nur zu Streit und schlechter Stimmung in den nächsten Tagen. Dafür sollte es genug andere Gründe geben, wie sich herausstellen würde.
Am Ziel angekommen, es war sehr spät geworden, standen wir erst noch eine halbe Ewigkeit an einem Bahnübergang, die Bungalowanlage in Sichtweite. Die Sichtweite zum Bungalow sollte genau das Problem der ersten und drei weiteren Nächte werden. Wir hatten an diesem Tag nur noch unseren Kram in den Bungalow gestellt und sind ins Bett gegangen. In jenen Betten lagen wir nun und wurden in fünfzehn minütigem Rhythmus aus dem gerade einsetzen wollenden Schlaf gerissen. Der uns zugewiesene Bungalow war der zweite vom Bahndamm aus in Richtung Meer, wo sich die Bungalows, zehn rechts, zehn links bis zum Meer hinunter zogen. Der Bungalow von Onkel und Tante war der dritte vom Meer aus gesehen. Während wir das Gefühl hatten, die Züge fahren direkt durch unser Schlafzimmer, hatten Onkel und Tante genügend schalldämpfende Bungalows zwischen sich und dem Bahndamm, um unser Problem nicht verstehen zu können. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. So hatten wir uns nach zirka vier Nächten, ähnlich wie an den Fluglärm zu Hause, an die Züge im Schlafzimmer gewöhnt. Es kann aber auch nur die schlichte Erschöpfung gewesen sein.
Der Urlaub, gedacht als preisgünstige Variante um mal Spanien kennenzulernen, entpuppte sich für meinen Vater erst mal als einwöchigen Arbeitseinsatz. Der Bungalow, der so alt gar nicht war, befand sich ein einem derart maroden Zustand, dass sich mein Vater genötigt sah, mit den begrenzten Mitteln an Werkzeug und Material, umfangreiche Reparaturarbeiten durchzuführen. Er wäre sonst wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen sich zu entspannen. Außerdem lag die Bungalowanlage in einem, sagen wir mal, sehr infrastrukturschwachen Gebiet. Es gab schlicht weg nix. Keinen Laden und kein Restaurant oder zumindest einen Imbiss. Nicht, wie man es gewohnt war, fußläufig einkaufen oder essen gehen zu können. Auch war der Bungalow gegenüber dem Zelt keine wirkliche Bereicherung. Es war jetzt schon klar, einmal und nie wieder.
Onkel Heinz hatte extra für diesen Urlaub, und wahrscheinlich dachte er da noch, es würden weitere folgen, ein kleines Schlauchboot mit kleinem Motor angeschafft. Ja, genau das Schlauchboot, das Harald erwarb als klar war, dem Spanienurlaub wird bei Heinz und Liesel kein weiterer folgen. Da mein Onkel Heinz schon mit diesem Bootchen überfordert zu sein schien, kümmerte ich mich darum, den Motor zum laufen zu bringen, was mir später, als ich das Boot von Harald übergeben bekam, sehr hilfreich war. Das Boot, bzw. der Motor war viel zu klein um die meist stärkere Brandung zu überwinden, was die Einsätze auf ein Minimum reduzierte. Somit war der Urlaub nicht das, was man sich erhofft hatte. Für meine Mutter war ausreichend Sonne vorhanden um genügend geschwärzt nach Hause zu fahren. Für mich gab es Sand und Meer in ausreichendem Maß um sandburgbaumeisterlich tätig werden zu können. Und Beschäftigung mit dem Schlauchboot, wenn es denn mal zu Wasser gelassen wurde. Mein Vater machte Kreuzworträtsel und bastelte am Bungalow herum. Der Bungalow war wahrscheinlich im besten Zustand seit Jahren, nach unserer Abreise. Die Abende voller Geselligkeit mit anderen, zuvor nicht gekannten Leuten, oder jenen, die man jedes Jahr wieder traf. Gründe für einen Magenbitter im Laufe des Tages. Das Kennenlernen von fremden Kulturen, zwar eher aus dem Europäischen Umfeld. Aber egal, es war jedenfalls bereichernd. All das fehlte hier. Es war klar, das wird es kein zweites Mal geben.

So war selbst die Abfahrt bezeichnend für diesen Urlaub. Man hatte vor sehr früh, um ca. drei Uhr morgens aufzubrechen, Schließlich war es ja eine weite Reise, und man wollte auf jeden Fall bis nach Lyon kommen. In der Nacht hatte es jedoch ein sehr starkes Unwetter gegeben. Der Strom fiel aus und ein Zug blieb mitten auf dem einzigen Bahnübergang, der die Bungalowsiedlung mit dem Reste der Welt verband, stehen. Wir saßen also im Bungalow und wären ausnahmsweise einmal froh gewesen einen fahrenden Zug zu hören. Es war schon lange hell, als sich der Zug endlich in Bewegung setzte und den Bahnübergang frei gab.
Entsprechend spät erreichten wir Lyon und fanden in der Umgebung einen Zeltplatz. Wir hatten das kleine Hauszelt, die „Hundehütte“ meiner Schwester, für die Übernachtung dabei. Auch diese Nacht ging irgendwie vorbei, hatte aber wenig erholsamen Schlaf gebracht. Mein Vater bestand am nächsten Morgen darauf, eine französische Metzgerei und eine Bäckerei aufzusuchen. Er hatte aus seiner Wehrmachtzeit in Frankreich so einige Leckereien in guter Erinnerung. Ich erinnere mich an eine exzellente Leberpastete und das knusprige Baguette. Dann starteten wir gut gestärkt auf die letzte Etappe. Spät zu Hause angekommen, freuten wir uns schon auf das nächste Jahr. Campingurlaub in Caorle.

Der zweite Ausreiser, was den Ort des Urlaubs anging, fand wenigstens in der gewohnten Besetzung statt. Irmgart und Anton hatten Jugoslawien ins Spiel gebracht. Dort soll es sehr schöne Plätze geben, und billig war es obendrein. Ausgesucht hatte man sich einen Campinglatz am Bohinjisee, einem See im bergigen Innenland. Wie man auf diese Idee kam? Keine Ahnung. Der Campingplatz war jedenfalls ziemlich sauber. Da hatte man schon Schlimmeres erlebt. Er lag in den Julischen Alpen im heutigen Slovenien. Dort zwischen dem See und dem 1922m hohen Berg namens „Vogel“. Dieser Berg bot ausreichend Schatten, um den Campingplatz den größten Teil des Tages ohne Sonne auskommen zu lassen. Kaum Sonne? Ein Desaster für meine Mutter. Wie sollte die für zu Hause erforderliche Körperschwärze erzeugt werden? Schlimmer noch, das Wasser im See war 15°C kalt. Man war also auf einem Campingplatz ohne Sonne mit Wasser, in das nur ich zwei mal mit der Luftmatratze ging. Einziges Highlight war eine Fahrt mit der Seilbahn auf jenen Berg „Vogel“. Diese Fahrt konnte jedoch mein Vater nicht mitmachen, da er wegen seines vor nicht allzu langer Zeit erlittenen Herzinfarktes, sich nicht in größerer Höhe aufhalten sollte.
Zufrieden war also keiner so richtig. Anneliese hatte dann irgendwann die Schnauze voll. Sie machte klar, hier wolle sie keine drei Wochen bleiben. Sie würde zur Not auch alleine nach Hause fahren. Da wird sich schon eine Möglichkeit finden. Jugoslavien war nicht so ohne weiteres zu bereisen. Man brauchte ein Visum und genau jenes muss sich auch irgendwie lohnen. Nachdem man auch noch Herzinfarkt und Höhe in die Waagschale geworfen hatte, war klar, man wird diesen Ort nach einer Woche in Richtung Meer verlassen.
So fuhr man aufs gerade wohl in Richtung Adria. Als man die Küste erreichte, bog man auf die Küstenstraße in Richtung Süden ab und hielt am ersten Campingplatz der auftauchte. Der Campingplatz war völlig neu angelegt und lag in der Nähe des Ortes „Umag“. Er verfügte daher über eine neue Rezeption, neue Sanitäranlagen und neu gepflanzte Pinien, die keinen Schatten boten. Wie damals, am Anfang in Jesolo. Dort bauten wir uns ganz nah am Meer auf. Das „Männerzelt“ war in mein Eigentum übergegangen. Ich hatte nun ein eigenes Steilwandzelt mit separatem Schlafzelt. Ein Wahnsinn. Harald war in das Vorzelt seines VW-Wohnbusses gezogen, und mein Vater wieder an die Seite seiner Frau, meiner Mutter. Diese hatte nun die Sonne, die sie brauchte. Ich hingegen vermisste einen wesentlichen Aspekt meiner bisherigen Urlaube, den Sand. Die Küste hier war felsig und Sandstrand gab es kilometerweit überhaupt keinen. Das sollte sich aber noch als nicht dringend notwendig erweisen.
Die Natur auf dem Areal des Campingplatzes hatte jedoch noch nicht so richtig begriffen, dass sich da etwas geändert hat. So gab es überall Skorpione. Wenn ich abends in mein Zelt ging, schaute ich zuerst im Schlafzelt nach, wo kleine Erhebungen im Zeltboden zu sehen waren. Dann wurde mit dem Absatz eines festen Schuhs auf diese Erhebungen eingeschlagen, bis sich nichts mehr bewegte. Danach konnte man sich getrost zur Ruhe begeben. Als das Zelt abgebaut wurde, klebten zahlreiche Skorpionleichen am Zeltboden.
Auf dem Schotterweg zum Rezeptionsgebäude lagen öfter vertrocknete Schlangen. Diese hatten beim Überqueren des Wegs den Tod gefunden und wurden auch nicht gleich entfernt, denn Schlangen waren ja nichts Ungewöhnliches. Den Weg ging ich sehr oft, zu oft um ehrlich zu sein. Mein Ziel war der Stand eines Mannes, der auf seinem Grill in der Nähe des Rezeptionsgebäudes, ein exotisches Gericht zubereitete. „Cevapcici“. Jene Hackfleischwürstchen, 8cm lang, 1,6cm dick, hatten es mir angetan und schienen ein adäquater Ersatz für „Pasta Aciuta“, „Calamari fritti“ und frittierte Sardinen zu sein. Jedenfalls floss mein gesamtes Taschengeld in jene Speise. Ich hatte mich derart daran überfressen, dass nach einer Woche allein die Erwähnung des Wortes „Cevapcici“ ein starkes Übelkeitsgefühl bei mir auslöste.
Schien es anfangs so, als müsse ich einen Teil meines Taschengeldes statt für „Cevapcici“, für eine Taucherbrille, Schnorchel und Schwimmflossen abzweigen, so bekam ich das jedoch alles von Harald geschenkt. Der hatte sich zusätzlich noch eine Harpune gekauft. Damit wollte er das bisher verwerte Glück, Fische zu fangen per Angel, in eine neue fischfangtechnische Dimension heben, und ich sollte dem ganzen hautnah beiwohnen. Er nannte mich fortan nur noch „Mike Nelson“, einen Protagonisten der Fernsehserie „Abenteuer unter Wasser“. Mann, war ich stolz. Ich konnte damals nämlich, Schwimmclub sei Dank, sehr lange und tief tauchen.
So tauchten wir. Harald bewaffnet mit seiner Harpune auf der Jagd nach den richtig dicken Fischen. Das Wasser war dank der Felsenküste klar und wenig wellig. Ein anderer, vielleicht 14 jähriger Junge vom Campingplatz, konnte zehn Meter tief tauchen und brachte riesige Muscheln vom Meeresgrund nach oben. Heute ist das verboten, da die Muscheln vom Aussterben bedroht sind. Eine der Muscheln wurde geöffnet und heraus kam wenig Ansehnliches. Das Unansehnliche begann auch ziemlich flott barbarisch zu stinken. Weitere Muscheln wurden nicht an Land gebracht. Harald lernte zwischenzeitlich, dass das, was man durch die Taucherbrille sah, nicht der Realität entsprach. So erschien die Jagdbeute größer als sie tatsächlich war, und der Blickwinkel war auch verzerrt. Kurz, die neue Art an Fische zu kommen, erwies sich nach kurzer Zeit als flopp. Ein einziger Fisch und der war halb so groß als er unter Wasser schien. Erstaunlich, dass er ihn überhaupt getroffen hatte. Die Harpune, die von ehemals drei Spitzen nur noch eine aufwies, stand fortan hinter dem Wohnbus von Harald und erfreute sich großer Nichtbeachtung.
In einem kleinen Restaurant, mehr ein Café oder Bistro, am Hafen von Umag, hatte sich eines Tages ein junger Mann aus dem Ort hinzugesellt. Milan war vielleicht fünfundzwanzig. Gut gebaut. Ein hübscher Kerl, wie alle Damen in unserem Kreis feststellten. Er sprach gut Deutsch, was er auch als Grund für seinen Vorstoß uns anzusprechen, angab. Er habe Deutsch gelernt, weil er unbedingt nach Deutschland wollte. Nur leider hatte da das „Tito-Regime“ etwas dagegen. Jedenfalls umschwänzelte Milan unsere Gruppe. Tauchte sogar auf dem Campingplatz auf und nahm an unseren abendlichen Geselligkeiten teil. Tatsächlich überlegte unsere Gruppe ernsthaft, wie man ihn aus Jugoslawien heraus schmuggeln könne. Doch die Vernunft, oder besser die Angst vor Jugoslawischen Gefängnissen, vereitelte den Plan. Es gab einen tränenreichen Abschied und kein Wiedersehen, da wir nie mehr einen Urlaub in Jugoslawien machten.

Außer dem Weißbrot, dass quasi zu jedem Essen gereicht wurde und fast wie Sandkuchen schmeckte, bot der Urlaub noch zwei grandiose Highlights. Das Erste war der Besuch in der Grotte von Postojna. Die Höhlen von Postojna, auch Adelsberger Grotte, liegen in der Nähe der slowenischen Stadt Postojna. Im dortigen Karstgebiet befinden sich die zweitgrößten bekannten und für Touristen erschlossenen Tropfsteinhöhlen der Welt (nach der Jeita-Grotte im Libanon). Das gesamte Höhlensystem ist 24 Kilometer lang. Der erschlossene und ganzjährig für den Tourismus geöffnete Teil umfasst 5 km, wovon die Besucher 3,5 km mit einem Zug zurücklegen. Sie diente auch als Filmkulisse für die Filme „Winnetou 2“ und „Die Nibelungen“. Im zweiten Weltkrieg wurde hier Munition gelagert. Die Spuren von deren Sprengung sind am Höhlenausgang heute noch zu sehen.

Zweites Highlight war der Besuch im Gestüt von Lipica. Hier hatte ich einen schwarzen Hengst gesehen, der mir aufgrund seiner schieren Größe, solch einen Respekt eingeflößt hatte, dass ich von da an Angst vor Pferden hatte. Allein der Blick des Pferdes ging durch Mark und Bein. Das Gestüt in Lipica wurde um 1580 von Erzherzog Karl gegründet, da der Habsburger Adel für Paradeauftritte immer wieder Pferde begehrte. Die Zucht der schneeweißen Lipizzaner war bereits anfänglich sehr erfolgreich. Es handelte sich um eine Kreuzung andalusischer Hengste mit einheimischen Stuten. Deren Gelehrsamkeit und Robustheit brachte die Pferde zunächst zu Dressurzwecken nach Wien, sie wurden später vor allem in der Spanischen Hofreitschule beim kaiserlichen Hof vorgeführt. Die Spanische Hofreitschule ist eine im Michaelertrakt der Hofburg in Wien ansässige Reitinstitution, die ursprünglich der reiterlichen Ausbildung der kaiserlichen Familie diente. Sie ist einer der wichtigsten Orte zur Erhaltung der klassischen Reitkunst, wobei ausschließlich Lipizzaner ausgebildet werden.

Das war´s auch schon mit den Ausreisern. Bis ich meine zwanziger Lebensjahre erreichen würde, gab es nur noch Urlaub an gewohnter Stelle. In Italien an der Adria. Und das war gut so, wie es war.
Schreibe einen Kommentar