33) Schule im Buchenbusch, pubertärer Teil (Letzter Akt)

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Die Jahrgangsstufen acht, neun und zehn gingen mit einem ständigen Niedergang der schulischen Leistungen einher. Es gab Tage, da war ich einfach nicht in der Lage in die Schule zu gehen. Auch ohne soziale Netzwerke kann Schule zum Alptraum werden. Mobbing unter Mitschülern war nicht das Problem, sondern die konsequente Verweigerung der Lehrerschaft, Schulunterricht interessant oder womöglich spannend zu gestalten. Im finalen Stadium meiner Schulzeit wurde sogar Lehrern der Eintritt in den Klassenraum durch Verbarrikadieren der Klassentür verweigert. Wir hatten uns entschlossen, es den Lehrern schwer zu machen, wenn die uns das Leben schwer machten. Leider saßen die aber am längeren Hebel.

Frau Dr. Seefisch, genannt „Findus“, unsere Deutschlehrerin, war ein Musterbeispiel dafür. Wie schön ist es doch wenn man Jahrzehnte lang jedes Jahr genau das Gleiche im Unterricht abspulen kann. Viele schöne Interpretationen und Aufsätze, die man dann beliebig bewerten kann. Damit hatte man seine Lieblinge und natürlich auch die ungeliebten Schüler prima im Griff. Sie wusste ganz genau, dass ich eine Schreib- und Leseschwäche hatte und nutze das mit großem Genuss um mich immer wieder vor der Klasse zu blamieren. Wenn ich mich am Unterricht beteiligte, wurde ich ignoriert. Hatte ich mich aus dem Unterricht geistig ausgeklinkt, wurde ich vorgeführt.

Mathematik, Physik, Chemie waren meine starken Fächer. Deutsch ein Desaster. Genauso wurde Geschichte von der pädagogischen Kanone, die uns einen eigentlich hochinteressanten Stoff vermitteln sollte, dermaßen auf das Auswendiglernen von Jahreszahlen reduziert, dass auch dieses Fach tief in den roten Zahlen war. Unser Englischlehrer war ein echter Lichtblick. Bei ihm war der Unterricht interessant. Er war ein Freund der Schüler. Sein Steckenpferd war die Musik und somit war er glücklicherweise auch unser Musiklehrer. Im Musikunterricht war er offen gegenüber den Zeichen der Zeit und der Musik unserer Generation und vermochte es somit auch Brücken zu klassischen und volkstümlichen Themen zu schlagen. Dieses Gefühl von einem Freund unterrichtet zu werden übertrug sich halt auch auf seinen Englischunterricht. Er nutzte die Möglichkeit Interpretationen und Aufsätze zu nutzen um schwachen Schülern das Schuljahr zu retten. Leider verließ dieser Lehrer vor dem letzten Schuljahr die Schule und wurde durch einen ähnlich unakzeptablen Pädagogen ersetzt, wie es sie leider schon zu viel gab an dieser Schule.

Der Geschichts- und Biologielehrer saß auf seinem Stuhl und zog seinen Stoff durch. Um ihn herum flogen Papierflieger, einzelne Grüppchen hatten sich kurzfristig zu einem Stuhlkreis versammelt um wichtige Freizeitthemen zu diskutieren, andere gingen derweil zum Kiosk. Das alles ließ ihn völlig kalt. Er benotete dann ebenso kaltblütig die Leistung der teilweise nur vorübergehend Anwesenden. Der Begriff „Schüler“ wäre hier nicht angebracht.

Wir saßen in den Stunden, die eigentlich Unterricht sein sollten herum. Meine Klassenkameraden und ich führten sich gegenseitig vor, welche immensen Zelte sie in ihrer Hose bauen konnten. Man trank Apfelwein, kritzelte irgendwas auf irgendwelchem Papier herum. Eine kleine Schülergruppe versuchte unterdessen so etwas wie Unterricht zu machen, aber 80% eben nicht. Manche gingen in den Zwischenraum zwischen den Klassenzimmern, nahmen sich ein paar Musikinstrumente aus den Schränken und „musizierten“ ein wenig.

Apropos kritzeln. Es war angesagt, gebrauchte Jacken aus Beständen der US-Armee zu tragen. Diese bekam man in einem speziellen Laden in Frankfurt. Natürlich hatte ich auch so eine. Sie war enorm praktisch, da sie unendlich viele Taschen hatte.

Für meine Eltern unverständlich, dass man Militärklamotten freiwillig anzieht. Unfassbar, dass man diese dann auch noch überall mit Kugelschreiber voll kritzelte. Als ich Jahre später die genannte Jacke wieder fand, hatte ich einiges zu lesen. Da stand unter anderem der Name einer Uschi umrahmt von allerlei Herzchen. Ich kann mich bis heute nicht erinnern, irgendwann mal was mit einer Uschi gehabt zu haben. Da kommt kein Bild in den Sinn. Es gab mal ein Mädel, die war so wunderschön, dass ich außer Knutschen nichts mit ihr vollzog. Eben weil sie so schön war. Sie hatte aber etwas mehr erwartet und mit mir Schluss gemacht. War das vielleicht Uschi? An Ihr Gesicht und ihre roten Haare erinnere ich mich. An den Namen nicht.

Das Halbjahreszeugnis der zehnten Klasse ließ schon nichts Gutes erahnen. So war keine Mittlere Reife zu erreichen. Irgendwie ging da auch kein Ruck durch mich hindurch. Nach der Schule schmiss ich meine Tasche in die Ecke und beschäftigte mich mit allem was mir Spaß machte. Moped, Filme, Musik, Mädels. Alles besser als die blöde Schule.

Ich stellte mir nachts um drei Uhr den Wecker, ging in unser Esszimmer und machte am Esstisch Hausaufgaben. Ich hatte zwar einen Schreibtisch in meinem Zimmer,. der war aber immer voll mit anderen Sachen, die mir wichtiger waren. Die Hausaufgaben gemacht zu haben, war mir nur wichtig, weil ich nicht von irgendeinem der Lehrer vor der Klasse vorgeführt werden wollte. Prokrastination nennt man das wohl, wenn man alles erst auf den letzten Drücker erledigt. Prokrastination sollte mich mein ganzes Leben begleiten. Erst wenn der Zeitdruck da war, konnte ich kreativ und konzentriert an einer Sache arbeiten. In achtundneunzig Prozent aller Fälle lieferte ich dann auch gute Ergebnisse.

In der Schule verbesserte sich jedoch nix. Einige der Lehrer, blöderweise in für die Versetzung wichtigen Fächern, hatten beschlossen, dass ich halt faul und dumm sei. Mich das bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren zu lassen, schien ihre große Passion geworden zu sein. Allmählich glaubte ich selbst daran. Wenn niemand mehr irgend etwas Gutes findet, wenn es keine Aufmunterung oder womöglich ein Lob mehr gibt, sucht man seine Selbstbestätigung woanders. In der Clique halt. Dass das für das man da seine Bestätigung erfährt oft nicht gut für einen selbst oder die Allgemeinheit ist, steht auf einem anderen Blatt. Zu Hause war da auch nichts mehr zu erwarten.

Ich hatte mich eigentlich schon auf die Wiederholung des Schuljahres eingestellt. Spätestens nach dem Unfall war klar, das ist nicht mehr zu schaffen. Ich hoffte auf andere Lehrer, die mich dann mit einem unvorbelasteten Blick unterrichten würden. Meine derzeitigen Klassenkameraden hätten die Schule verlassen und ich käme in eine neue Klassengemeinschaft in der ich durch mein Wissen aus dem verkorksten Jahr brillieren konnte. Dieser Zahn wurde mir schnell gezogen. Für meinen Vater war jetzt Schluss mit Lustig. Er machte mir in klaren, drastischen Worten klar, dass am Ende des Schuljahres das Ende meiner schulischen Laufbahn gekommen sei. Mit oder ohne Mittlere Reife war ihm völlig Wurst. Er wollte, dass ich arbeiten gehe und die Familie mittels monatlicher Abgabe unterstütze.

Somit war alles klar. Es war aller höchste Zeit sich um eine Lehrstelle zu bemühen. Das war dann die Zeit, wo ich feststellen musste, dass sich mein Schutzengel nicht nur für das Verhindern von körperlichem Pein zuständig fühlte, sondern auch für das Verhindern von völligem Absacken in die soziale Verwahrlosung.

Eine der beiden Gabis hatte eine Lehrstelle bei der LURGI in Frankfurt am Main inne. Die LURGI war ein Ingenieurunternehmen mit ca. sechstausend Angestellten und somit einer der größten Arbeitgeber in Frankfurt. Gabi´s Vater, Mutter, Onkel und Opa arbeiteten alle beim Hessischen Rundfunk. Dieser plante gerade eine Art Telekolleg „Technisches Zeichen“. Was lag da näher als Gabi ins Gespräch für die Moderation zu bringen. Und so kam es dann auch. Gabi moderierte circa zehn Folgen „Technisches Zeichnen“ im Fernsehen. Das brachte ihr natürlich auch einen gewissen Stellenwert in der Ausbildungsabteilung der LURGI ein. Durch ihre Fürsprache bekam ich trotz der späten Bewerbung und des eigentlich schon vollen Lehrjahrs eine Einladung zur Eignungsprüfung. Mein Vater fuhr mich, noch im Gips, zur Prüfung. Die Prüfung dauerte sechs Stunden. Ich hatte schreckliche Schmerzen im gegipsten Bein, da es ja eigentlich nur liegen sollte. es wurde alles getan um es für mich so angenehm wie irgend möglich zu machen. Ausreichend Platz um das Bein hoch zu legen, etc.. Eine Fürsorge, die mir sehr gut tat. Die Themen der Prüfung fand ich sehr interessant. Es machte mir teilweise richtig Spaß. Mein Vater hatte die ganze Zeit im Flur ausgeharrt. Ging mal zwischendurch ein paar Schritte in der Hansaallee, wo sich das Ausbildungszentrum befand. Als alles geschafft war, fuhr er mich nach Hause. Wir sprachen während der Fahrt fast nix. Wahrscheinlich rechnete er sowieso mit keinem guten Resultat.

Vier Wochen später, der Gips war Geschichte, kam der Brief von der LURGI. Der Test war erstaunlich gut verlaufen. Im Schnitt mit Note „drei“. Große Stärken in Mathematik und Geometrie. Ich wurde eingeladen, den Lehrvertrag abzuholen und vor Ort zu unterschreiben. Bei dieser Gelegenheit sollten mir dann die Ausbilder und die Ausbildungsstätten vorgestellt werden.

Es begann ein neues, eines der besten Kapitel meines Lebens. Die Drecksschule ging mir jetzt am A…. vorbei. Der LURGI war nämlich egal, welchen Abschluss ich haben würde. Das hatte nur Einfluss auf die Länge der Lehrzeit. Abitur = zweieinhalb Jahre. Mittlere Reife = drei Jahre. Hauptschulabschluss = dreieinhalb Jahre.


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