25) Die Angst

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Von Kleinkindesbeinen an war ich ein eher ängstlicher, am Rockzipfel hängender, Bursche. Manchmal hilft eine gesunde Angst auch vor einigen Dummheiten, die man anschließend schwer bereuen würde. So zum Beispiel als mein Schulfreund Heinzi, in seiner Verkörperung als Winnetou, mit mir, der Verkörperung von Old Shatterhand, unbedingt die Szene der Blutsbrüderschaft nachempfinden wollte. Dazu sollten wir uns mit einem scharfen Messer in die Innenseite des Unterarms ritzen. Und dann die offenen Stellen aneinander pressen. Wie im Film halt. Da hat meine Angst wahrscheinlich einen größeren Blutverlust verhindert. Heinzi war noch tagelang sauer, ob meiner Verweigerung der Blutsbrüderschaft.

Ansonsten war Heinzi ein sehr guter Spielkamerad, mir sehr ähnlich in der Interessenslage. Teilweise war das Spiel auch sehr körperbetont. Ein eher harmloses Spiel war da unser Rollenspiel, das der von 1967 bis 1968 im ZDF ausgestrahlten Fernsehserie „Solo für O.N.C.E.L“ nachempfunden war. Heinzi verkörperte den blonden Russen Illya Kuryakin und ich den dunkelhaarigen Amerikaner Napoleon Solo. „U.N.C.E.L.“ wie es im Original hieß, bedeutete United Network Command for Law Enforcement. Das passte zu uns genauso wie die Haarfarbe. Wir hatten auch die gelben, dreieckigen Erkennungsmarken nachgebastelt, was das Ganze noch authentischer gestaltete.

Aber zurück zur Angst. Ich war eigentlich immer schon ein sehr ängstlicher Mensch. Eher einer, der am Rockzipfel seiner Mutter Schutz suchte. Ein einziges Mal hatte ich in meiner Kindheit keine Angst und wurde zu einem kleinen Helden, der dann wieder Angst vor der permanenten Dankbarkeit des Geretteten hatte.

Im Sportpark Neu-Isenburg gab es einen Spielplatz, der einem Indianerdorf nachempfunden war. Es gab eine Pferdekutsche ohne Pferde, einige Indianerzelte, die allerdings aus Holz waren und einige Marterpfähle. Als ich, wie schon öfter, zu dem Spielplatz kam, sah ich schon von weitem, dass einige Kinder einen Jungen an einen der Marterpfähle gebunden hatten. Ich beobachtete von weitem, wie sie den weinenden Jungen traktierten. Ich weiß nicht was, aber irgendwas hielt mich von meinem ursprünglichen Plan, mich davon zu machen und die Sache zu vergessen, ab. Ich ging hin und erzählte irgendwas von der Polizei, die gleich da sein würde und dass ich alles genau beobachtet hätte. Daraufhin suchten die Kinder zum Glück das Weite und ließen ihr Opfer angebunden zurück. Statt das Weite zu suchen wäre ein weiteres Opfer am Marterpfahl eine durchaus denkbare Variante gewesen. Aber besser so. Ich löste die Fesseln und war fortan der Dankbarkeit des Befreiten ausgesetzt. Ich vermied es später auch nur in die Nähe des Hauses, in dem er wohnte, zu kommen, damit ich nicht wieder als Held gefeiert würde.

Sonst war es eher mau mit Heldenmut. Ihren absoluten Höhepunkt erreichte die Angst, als ein Unfall eine schwerst traumatische Wunde verursachte. Ich war bei einem Schulfreund, einem der zwei Manfreds, in dem Fall, der mit dem Restaurant, zum Spielen. Ich war ungefähr elf Jahre alt. Sechste Klasse halt. Wir saßen in der Küche am Tisch und spielten ein Brettspiel. Seine Mutter, die etwas sehr mütterliches hatte, ähnlich wie Frau Diewisch, stand gerade bei uns am Tisch und schenkte uns etwas zu trinken ein, als sie plötzlich von einem Geräusch aufgeschreckt wurde. Zuerst ein Knacken verbunden mit einem Geräusch von splitterndem Plastik, und danach ein dumpfer Aufprall. Manfred und ich schauten uns verwundert an. Seine Mutter rannte sofort los, bereits ahnend was geschehen war. Manfreds Vater war bei Reparatur Arbeiten vom Dach gefallen. Ein kleines Vordach mit Well-Plastik hatte seinen Sturz gebremst, was ihm wahrscheinlich das Leben rettete. Manfreds Mutter hatte die Situation sofort überblickt und die Rettung angerufen. Erst als diese eintraf, brach sie weinend zusammen. Wir Kinder waren wie gelähmt. In einer Art Schockstarre verharrten wir vor unserem Spielbrett. Diese löste sich erst, als der Vater abtransportiert war und man wusste, dass keine unmittelbare Lebensgefahr bestand. Trotzdem würde der Vater den Rest seines Lebens mit körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen leben müssen. Er war fortan auf Gehhilfen angewiesen.

Das dumpfe Geräusch des aufschlagenden Körpers ging nicht mehr aus meinem Kopf. Ich hatte von diesem Zeitpunkt an ständig Angst, dass irgendjemand die Treppe herunter stürzen könnte. Ich stand dann im Flur, das Herz schlug mir bis in den Hals und mit war schlecht, bis die Person sicher das Treppenende erreicht hatte. Heutzutage würde man das total traumatisierte Kind in eine Psychotherapie geben, auch um mögliche Schäden für den Rest des Lebens zu vermeiden. Damals merkte das ja keiner, was da mit mir los war. Ich musste halt irgendwie damit zurecht kommen. Die Angst wurde immer stärker. Irgendwann hatte sie mich voll im Griff. Es war so schlimm geworden, dass ich begann, Dinge zu sehen, die gar nicht da waren. Vielleicht waren sie auch da, wer weiß das schon. Hat ja niemand außer mir gesehen. Ich kam von der Schule, schloss die Haustür auf und ging hinein. Flur und Treppenhaus waren dunkel. Oben auf der Treppe sah ich eine Gestalt. Sofort stieg in mir das Gefühl von Säure im Blut auf. Ich drehte mich um, und lief wieder zur Haustür heraus. Ich setzte mich auf die Treppe vor dem Haus und verharrte dort, bis nachmittags meine Mutter nach Hause kam. Natürlich erzählte ich ihr nicht, was ich gesehen hatte. Ich wollte ja nicht als verrückt gelten. Dererlei Ereignisse gab es noch einige. Dunkelheit und Höhe lösten extreme Angstattacken aus. Irgendwann im laufe der folgenden Pubertät ließ das Ganze nach. Richtig weg ist es bis heute nicht.

Apropos Angst und Pubertät. Die Angst vor einer angedrohten Phimose-Operation sorgte dafür, dass ich begann, das Körperteil, welches im Operationsfall weggeschnitten worden wäre, so zu weiten versuchte, dass die Operation überflüssig werden würde. Dabei wurde mir ganz beiläufig bewusst, dass das ganz wunderbare Gefühle auslöste. Das Gehirn schaltete die Angst etwas zurück, und die Sexualität nahm den frei gewordenen Platz ein.

In Neu-Isenburg gab es so einige „Rocker“. Diese hatten mit „Rock“ eigentlich nichts zu tun, sondern waren einfach nur Schlägertypen. Mit vierzehn war ich abends, die Dunkelheit war schon hereingebrochen, in Neu-Isenburg unterwegs. Mit dem Klapprad meines Vaters, als sich plötzlich drei jener Gestalten vor mir aufbauten und mich zum Anhalten zwangen. Sie fingen dann an mir irgendwelche Fragen zu stellen, deren Beantwortung dann sofort als Provokation umgemünzt wurden. Ich wusste wohin das führt. Meine spontan entwickelte Strategie sollte mir im restlichen Leben auch in ähnlichen Fällen sehr hilfreich sein. Den körperlich überlegenen Gegner schwindelig babbeln und plötzlich und unerwartet die Flucht ergreifen. Meine körperlichen Voraussetzungen für eine gewisse Schnelligkeit beim fliehen, waren ganz gut ausgeprägt. Überhaupt wäre ich auch, was die körperlichen Voraussetzungen angingen, durchaus in der Lage gewesen, einen Kampf mit einem der drei für mich zu entscheiden. Das wurde mir bewusst, als ich einige Wochen später auf der Frankfurter Straße zu Fuß unterwegs war. Auf meiner Bürgersteigseite sah ich einen der drei entgegen kommen. Als der mich erblickte, wechselte er sofort die Straßenseite. Nicht ohne sich dabei einigen Gefahren auf der vielbefahrenen Straße auszusetzen. Ab diesem Zeitpunkt war mir klar, stark sind die nur zu Mehreren.

Trotzdem würde die Angst für den Rest meines Lebens mein Begleiter bleiben. Eine Therapie fand erst statt, als ich mich für meinen Arbeitgeber in einen „Burnout“ begeben hatte. Erst hier wurde herausgefunden, dass das Grundproblem in meinem Leben immer die Angst war.

Die Angst, vor anderen Menschen zu sprechen, etwas vorzutragen oder eine Meinung zu vertreten, wurde auch schon früh gesät. Hier maßgeblich beteiligt, die Super-Pädagogen an der Schule im Buchenbusch. Aber dazu komme ich noch in einem anderen Kapitel.


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