Es kam der Moment als unser Untermieter, das Ehepaar Zucker, meinen Eltern mitteilte, dass sie jetzt adäquaten, bezahlbaren Wohnraum gefunden hätten und ausziehen würden. Das war schlecht für meine Eltern, da sie auf die Miete angewiesen waren. Es musste also ein Nachmieter gefunden werden.
Der Nachmieter war eine Nachmieterin mit Namen Angela Diewisch. Eine aus Schlesien stammende ältere Dame. Sie war Witwe und hatte einen Sohn, der im München lebte. Vielleicht hatte sie auch noch mehr Kinder. Wer weiß. Gesehen haben wir jedenfalls nie jemanden. Dass es den Sohn gab, erfuhren wir auch erst als wir vor ihrem verwahrlosten Grab standen und uns ein Friedhofs Mitarbeiter von eben jenem Sohn berichtete.
Frau Diewisch war eine herzensgute Dame und avancierte alsbald zu meiner Untermiet-Oma. Sie fühlte sich sauwohl in ihrer kleinen Wohnung, die eigentlich nur aus einem großen Zimmer und einer kleinen Küche im Gang bestand. In einer Nische des Zimmers stand ihr Bett. Sie hatte eine gemütliche Couch mit einem relativ großen Tisch davor. Den Tisch konnte man hoch und runter kurbeln, was zum Essen von großem Vorteil war. Der Mechanismus faszinierte mich sehr. Ich durfte aber nur hin und wieder kurbeln. Sie hatte eine Schrankwand mit einem Fernsehapparat darin.
Fernsehen unterlag einer gewissen Beschränkung, was die Programauswahl und die Uhrzeit betraf. Ich schlich mich schon ab und zu mal nach unten in den elterlichen Wohnbereich, um von der Küche aus heimlich am Fernsehvergnügen teilhaben zu können. Leider gab es auf dem Weg dort hin zwei gravierende Hürden zu überwinden. Erstens knarrten einige Stufen, oder sagen wir eher fast alle Stufen der Treppe. Ich musste also zwischen den Sprossen des Geländers entlang balancieren um Geräusche zu vermeiden. Zweitens war da die jüngere der beiden Schwestern. Sie hatte das Gehör eines Luchses und immer so eine gewisse Ahnung. Von ihr erwischt zu werden war wahrlich kein Zuckerschlecken.
Also beschloss ich anstatt nach unten, nach oben zu schleichen. Ich schlich die Treppe hinauf, öffnete geräuschlos (wie ich meinte) die Zimmertüre von Frau Diewischs Wohnzimmer. Die Tür befand sich auch in einer Nische und war nicht einsehbar von ihrem Platz auf der Couch. Danach robbte ich mich einem Nahkämpfer gleich, am Boden entlang, unter ihren Tisch und schaute fern. Auf die Programauswahl hatte ich natürlich keinen Einfluss. Das war aber egal. Es war einfach so gemütlich bei ihr. Natürlich wusste Frau Diewisch immer, dass ich unter dem Tisch lag. Irgendwann im Laufe des Abends sagte sie dann zu mir, dass es nun Zeit für das Bett sei und dass ich mich auf dem Weg dort hin nicht erwischen lassen solle. So ging das dann mehrmals pro Woche.
Etwas Mystisches umgab diese Frau. Sie beherrschte einige Zaubertricks. So zerschnitt sie zum Beispiel ein Stofftaschentuch und fischte es dann, abra kadabra, in völlig intaktem Zustand wieder aus ihrer zur Faust geballten Hand. Ganz klar, sie konnte wirklich zaubern. Wer zerschnitt schon ständig ein Stofftaschentuch und hatte dann ein völlig identisches Taschentuch zur Hand. Das würde ja bedeuten, sie hätte zig gleiche Stofftaschentücher haben müssen. Wer macht das schon? Das konnte nur wahre Zauberei sein.
Hellsehen konnte sie auch. Eines Tages sagte sie zu mir: „dein Vater sitzt unten und raucht eine Zigarre“. Mein Vater rauchte unterm Jahr nie eine Zigarre. Schon gar nicht ohne driftigen Grund. Ich ging also hinunter und fand meinen Vater auf der Couch, eine Zigarre rauchend. Gut, heute glaube ich, sie hatte einfach eine sehr feine Nase, denn es stellte sich später heraus, dass das mit dem Hellsehen zum Glück nicht stimmte. Irgendwann hatte sie mir offenbart, dass sie hellgesehen hat, dass ich im Alter von 30 Jahren bei einem Autounfall um´s Leben kommen würde. Das hat mich sehr lange beschäftigt. Nicht zuletzt, weil ich eine hohe Affinität zum Motorsport entwickelte und später aktiv Rallye fuhr. Im Alter von 31 hat mich dieser Spuk endlich losgelassen.
Hexenähnlich, kannte sie sich mit Kräutern gut aus. Wir gingen gemeinsam in den Wald und sammelten, was man zu irgendetwas verarbeiten konnte. Ich lernte, dass Waldmeister eine Pflanze ist und nicht aus der Tüte kommt, um dann geleeartig in einer Schüssel vor sich hin zu wabbeln. Wir sammelten Brennnesseln und sie zeigte mir, wo man diese am besten anfasst, um nicht gebrannt zu werden. Daraus machte sie dann einen Tee, der sehr gesund sein sollte und mit ausreichend Honig, dann auch gut schmeckte. Und so gab es viele Beispiele. Ich lernte viel über die Natur, ohne es zu merken.
In der Weihnachtszeit backte sie mit mir Plätzchen. Butterplätzchen und Spritzgebäck machte meine Mutter auch. Aber Hosenknöpfe und Vanillekipfeln waren für mich völlig neu. Hosenknöpfe bestanden aus einen fettigen Nuss,- Schokoteig, wurden zu einer Kugel geformt, erhielten eine Vertiefung in der Mitte, in die dann eine Eigelb,- Puderzuckermischung gefüllt wurde. Vanillekipfeln sind heutzutage auch in unseren Breiten ein eher geläufiges Weihnachtsgebäck. Mit all ihrer Wärme, Gutmütigkeit und Herzlichkeit, bereitete sie für mich damit das Weihnachtsfest vor.
Meine liebe Untermiet-Oma war auch an Heilig Abend unter uns, und wir feierten Weihnachten gemeinsam. Dass sie ein Teil unserer Familie geworden war, ohne jemals in irgendeiner Form aufdringlich oder unangenehm gewesen zu sein, war für sie ein großes Glück. Wir hatten ja nur ein Badezimmer, dass sie auch mitbenutzte, trotzdem hatte man davon nichts gespürt. Einfach ein angenehmer Mensch.
Für sie war der Tag, als ihr meine Eltern die baldige Hochzeit meiner ältesten Schwester verkündeten und dass man dann die Wohnung für das junge Glück benötigte, eine seelische Katastrophe. Das spürten meine Eltern auch, und sie setzten alles daran, dass sie eine schöne neue und günstige Wohnung bekommen würde. Wie der Zufall es manchmal so will, kam meine Mutter mit dem Ölmann ins Gespräch über diesen Sachverhalt. So hatte dieser eine Wohnung in seinem Haus in der Taunusstrasse frei. Eine zwei Zimmer Wohnung, wo sie auch endlich ihr eigenes Bad und eine richtige Küche hatte. Das Ganze zu einem Freundschafts-Mietpreis.
Meine Besuche bei ihr waren durch die Entfernung, danach nur noch sporadisch. Dabei konnte man spüren, wie sehr sie unter dem Verlust des Familienanschlusses litt. Sie verkümmerte förmlich und starb wenig später einsam.
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