Reisen, hieß zu dieser Zeit, nach Bad Hersfeld fahren zu meinem Opa und meiner Oma. Die Eltern besuchten dort auch mal ein paar Freunde.
Für die 150km lange Reise wurden zahlreiche belegte Brötchen geschmiert. Dann nahmen meine Schwestern und ich auf dem Rücksitz platz, und meine Eltern saßen vorne. Klar, mein Vater musste ja fahren. Die ersten Brötchen wurden bereits in Höhe Frankfurt West verzehrt. Nach ca. 20 km Fahrt.

Mein Vater chauffierte unseren Renault 4CV, „Molli“ genannt, ähnlich elegant wie einen LKW über die Straßen. An der Steigungs- und Gefällstrecke am Rimberg auf der A5 referierte er auch gerne darüber, in welchem Gang man einen LKW hier fahren müsse, um einen Unfall zu vermeiden. Während seiner Zeit als Schirrmeister war er hier oft mit großen LKW-Gespannen unterwegs. Die Autobahn war damals noch zweispurig, ohne Standstreifen und die Ausfahrten hatten keine Beschleunigungs- oder Verzögerungsspur. Zu jener Zeit völlig ausreichend.
Die Besuche bei meinen Großeltern mütterlicherseits waren immer etwas angespannt. Meine Großmutter hatte insgesamt drei Töchter und einen sehr spät nachgekommenen Sohn (Heini), der noch mit im Haus lebte. Es war meiner Oma eigen, dass sie immer mit einer ihrer Töchter im Clinch lag. In schöner Abwechslung war immer eine Andere dran. Diesem Prinzip blieb sie bis zu ihrem Tod 1979 treu.

Für meinen Opa war meine Mutter ja nur ein Stiefkind. Dies bekam sie in ihrer Kindheit und Jugend auch ausreichend zu spüren. Grund hierfür war, dass mein Opa im ersten Weltkrieg zeitweise als verschollen galt und meine Oma sich der Wollust mit einem anderen Mann hingab. Folge, meine Mutter. Egal, unsere Termine wurden abgearbeitet und die Besuche bei Freunden meiner Eltern in Bad Hersfeld waren ja meistens recht erbaulich. Manchmal aber auch nicht.
Ich erinnere mich an einen Besuch bei einer Familie, die einen Getränkehandel hatten. Sie waren recht wohlhabend. Ihr Kinderwunsch blieb lange unerfüllt, bis dann der ersehnte Sohn geboren wurde. Dieser war ca. zwei Jahre jünger als ich, hatte aber eine gigantische Ausstattung an Spielsachen. Besonders neidisch war ich auf ein Tretauto, für das er eigentlich noch viel zu klein war. Trotzdem durfte niemand, also auch nicht ich, damit spielen. Das Kind starb ein Jahr später. Woran weiß ich nicht, aber ich erinnere mich gut an die Tragödie und dass die Mutter in eine tiefe Depression fiel und für Jahre das Haus nicht mehr verließ.
Auch erinnere ich mich, dass ich, als ich noch sehr klein war, eine Woche bei meiner Oma bleiben sollte. Ich heulte Rotz und Wasser, als meine Eltern nach Hause fuhren und mich zurückließen. Als die Verlustängste sich etwas gelegt hatten, war es dann doch ganz schön. Ich spielte mit einem Fahrradanhänger, den ich sicherlich hundert Runden um das Haus schob. Mal mit Ladung, mal ohne.
Ich fütterte die Stallhasen, von denen dann einer nackt, kopfüber im Keller hing. Dieser Keller war nur von außen zugänglich und diente meinem Opa als Werkstatt. Ich half meinem Opa beim Wiese mähen. Die Wiese war so groß, dass später 4 Häuser auf der Fläche platz haben würden. Mein Opa mähte alles mit der Sense und ich half beim zusammenrechen. Das Gras wurde dann in Eisenkörben zur Scheune getragen.
In der Scheune gab es auch Hühner und mein Opa zeigte mir dass Hühner auch ohne Kopf noch ziemlich aktiv sein können. Im oberen Teil der Scheune waren die „Duube“, also die Tauben untergebracht. Sie waren der ganze Stolz von meinem Onkel Heini.
Morgens kam der „Wallich“, ein fahrender Händler für Molkereiprodukte. Dort durfte ich mir immer eine große Tasse Schmand für 10 Pfennig kaufen, die ich dann mit großem Appetit und viel Zucker verspeiste.

Eines Tages sagte mein Opa, dass wir mal mit dem Bollerwagen in die Staadt annegegeh müssten, um Fliesen für den Hauseingang zu kaufen. Er, sein Schäferhund und ich liefen also entlang des Schlippetals und der Meisebacher Straße in die Stadt und kauften die Fliesen. Zogen dann den schwer beladenen Bollerwagen wieder heim. Für meinen Opa stellte das eine große Anstrengung dar, da er im ersten Weltkrieg in einen Gasangriff geraten war und seither seine Lunge stark verletzt war. Das hatte unter anderem zur Folge, dass er häufig starken Husten mit ekligem Auswurf bekam, den er dann in der Küche in die Spüle spukte. Bäh.
Er hätte natürlich auch seinen Nachbarn fragen können. Der hatte sogar einen LKW. Die Familie nebenan wohnte in einer von zwei Baracken, die nach dem Krieg schnell aufgebaut wurden um arme Familien unterzubringen. Der älteste Sohn unterhielt auf einem Grundstück auf der anderen Seite des „wilden Wässerchens“, wie der Bach der am Haus vorbei führte hieß, eine Art Schrottplatz. Hier standen alte Baumaschinen und LKWs und rosteten vor sich hin. Trotzdem schaffte er es immer einen fahrbereiten LKW aus dem Schrott zu basteln.
Es war mir strengstens untersagt, jeglichen Kontakt zu dieser Familie aufzunehmen, da die ganze Familie verlaust sei. Das hin und wieder jemand von der Stadt zur Entlausung dort war bestätigte mir eine meiner Cousinen. Ich bedauerte das zutiefst, da ein Mädchen in meinem Alter zur Familie gehörte und ich so gerne mit ihr gespielt hätte.
Wenn meine Eltern in Hersfeld waren, gingen wir oft zu weitläufigen Verwandten. Viele wohnten im Schlippetal und man musste um zu den Wohnhäusern zu gelangen über ein kleines Brückchen gehen. Das fand ich aufregend. Das Brückchen überspannte das „wilde Wässerchen“, dessen Wildheit später in einem Rohr gebannt wurde.
Auch beliebt im Besuchsprogram waren die Besuche bei Tante Anni und ihrem Mann, der Hausmeister in einer Berufsschule war. Ich hatte großen Respekt vor ihm, da er so einen großen Komplex mit so vielen großen Gebäuden zu versorgen hatte. Wochenends, wenn wir dort waren, war kein Schulbetrieb. Vielleicht wirkten die Gebäude dadurch noch imposanter auf mich.
Und nicht zuletzt die Besuche bei Erna und Karl, die beinahe meine Eltern geworden wären, wenn ich ein Mädchen geworden wäre. Sie waren, wie schon erwähnt, wohlhabend und hatten ein modernes Haus am Hang. Durch die große Fensterfläche im Wohnzimmer konnte man über ganz Bad Hersfeld schauen. Besagter Karl war dem Alkohol nicht abgeneigt. Ich würde sagen, ein Quartalssäufer. Es gab dann immer eine Zeit, in der er ständig dicht war und dann wieder war er wochenlang nüchtern. An einem Sonntag in der Saufphase, packte er mich und meinen Vater in seinen Mercedes und fuhr mit uns in eine Gaststätte am Marktplatz zum Frühschoppen. Gegen 12:00Uhr war er bereits reichlich abgefüllt. Mein Vater fragte mich, ob ich Hunger hätte. Klar hatte ich Hunger und so bestellte er mir ein Schnitzel mit Bratkartoffeln. Essen in einer Gaststätte, das war für mich das allererste Mal und ich war so stolz. Und das Essen, ich empfand es als hätte ich sowas Gutes noch nie gegessen. Ich hatte die ersten drei Bissen gegessen, als Karl mir den Teller wegzog und mir ins Ohr lallte, dass wir jetzt nochmal das Lokal wechseln sollten. Ich habe geweint wie ein Schlosshund. Mein Vater entriss ihm den Teller, stellte ihn wieder vor mich hin und schrie Karl an, dass wir nirgendwo hingehen werden, bevor sein Sohn fertig gegessen hat. Ob dieses Ereignis daran schuld ist oder irgend ein anderes, ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich es bis zum heutigen Tag nicht verknusen, wenn mir jemand Essen wegnimmt oder auf meinem Teller rumstochert.
Es hat in meinem Leben sehr lange gedauert, nämlich 60 Jahre, bis ich meinen Frieden mit Bad Hersfeld gemacht hatte. Heute könnte ich mir sogar vorstellen dort zu leben. Wir fahren jetzt jährlich zu den Festspielen und öfter im Jahr auf den Wochenmarkt.
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