23) Schule im Buchenbusch – kindlicher Teil

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Wie schon erwähnt, hatte ich es trotz beharrlich schlechter Leistungen auf eine weiterführende Schule geschafft. Der Umstand, dass die Realschule im Ortskern von Neu-Isenburg wegen eines erheblichen Sanierungsstaus nicht mehr genutzt werden konnte, hatte die Stadt veranlasst im Ortsteil „Buchenbusch“ eine Art Behelfsschule zu errichten. Es handelte sich um Baracken mit jeweils zwei Klassenräumen rechts und links und einem zentralen Eingang dazwischen. In diesem Bereich befanden sich immer Schränke, in denen Unterrichtsmaterial aufbewahrt wurde und die Kleiderhaken für die Jacken und Mäntel der Schüler. Es gab natürlich auch Schülerinnen, aber zu jener Zeit wurde noch kein militanter Wert auf die verbale Feststellung des Sachverhalts gelegt.

Die Baracken bestanden aus Irgendwas. So genau waren die Materialien alle nicht zuzuordnen. Im Wesentlichen war es wohl sowas wie Holz. Jedenfalls ist im Nachhinein nicht auszuschließen, dass es sich hier um wahre Asbest und Formaldehydbomben handeln musste. Was sonst noch so alles verbaut war, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Der sensible Umgang mit Materialien dieser Art war in den sechziger Jahren noch nicht sehr verbreitet. Die großen Fensterscheiben waren aus billigstem Glas. Einfachverglasung natürlich. Im Sommer, wenn die Sonne auf die Fensterfront schien, wirkten die Fenster schon leicht wie ein Brennglas. Mein linker Unterarm, der diese Exposition für ein Jahr ausgesetzt war, sollte künftig von einer Dauerbräune geziert werden, die bis zum heutigen Tag erhalten ist. Das zeigt, warum Menschen in sehr sonnigen Teilen der Erde eine dauerhaft dunkle Hautfarbe haben. Mein Unterarm jedenfalls hatte nur an den Wochenenden und in den Ferien eine Gelegenheit sich dieser Dauerbestrahlung zu entziehen.

Die „Schule im Buchenbusch“ war eine Realschule und ich kam in die Klasse 5aR. Die Klasse 5bR war im anderen Teil der Baracke untergebracht. Eine Durchmischung der aR und der bR konnte nur im Zwischenteil stattfinden. Im Schulhof durchmischte sich dann alles. Eigentlich doch nicht, denn die Baracken für die Klassen 5-7 und der Verwaltungsteil befanden sich im nördlichen Teil des Schulgeländes, dazwischen waren Baracken mit den Toiletten, Werkräumen, der Schulküche und was es sonst noch so zur klassenunabhängigen Nutzung gab. Im südlichen Teil des Schulgeländes befanden sich die Baracken der Jahrgangsstufen 8-10 und die überdachten Fahrradständer. Somit gab es eine Trennung zwischen den kindlichen Schülern und den pubertierenden Schülern.

Der Schulleiter wohnte einige Reichsheimstätten weiter, in unserer Straße. Seine Frau unterrichtete auch an unserer Schule und erfreute sich der gleichen Unbeliebtheit wie ihr Mann. Glücklicherweise blieben mir die Beiden während der ganzen Schulzeit als Lehrkräfte erspart. Meine neue Klassenlehrerin in der 5aR war „Fräulein Balice“. Auf das „Fräulein“ legte die damals schon ergraute Dame aller größten Wert. Wie sich die Zeiten ändern.

Klassenfahrt zur Starkenburg. Ganz links: Fräulein Balice

Die Lehrer in diesen ersten drei kindlichen Schuljahren 5-7 waren noch recht harmlos. Unser Englischlehrer, Herr Fürst, war dabei derjenige, der positiv hervorzuheben ist. Er hatte so etwas wie eine natürliche Autorität. Er war Lehrer, Vaterfigur und Kumpel in einer Person. Dabei musste er sich nicht anbiedern und war nie peinlich. Glücklicherweise blieb er uns die gesamte Schulzeit als Englischlehrer erhalten. Ab Klasse 7 unterrichtete er dann auch noch Musik. Die Highlights aus dieser Zeit erfolgen im Kapitel „Schule im Buchenbusch – pubertärer Teil“.

Fräulein Balice war auch für den Biologieuntericht zuständig. Wir waren ja jetzt in den 60ern und die sexuelle Revolution war in vollem Gange. Fräulein Balice hatte die Revolution scheinbar bislang verschont. Aber es war von den Kultusministerien vorgesehen, dass das Thema Sexualität und Aufklärung in der Jahrgangsstufe 7 zu vermitteln war. Ich erinnere mich, wie schwer es ihr fiel. Sie holte sehr weit aus. Über die Blümchen zu den Bienchen. Letztere schienen es ihr angetan zu haben, denn sie hüpfte vor der Klasse umher um zu demonstrieren, wie die Bienchen den Pollen in ihre Beintaschen steckten. Dabei hob sie ihren langen Rock teilweise einseitig an, um das mit den Beintaschen zu vertiefen. Zum Wesentlichen, also zu dem, was uns interessierte, kam sie allerdings dann nicht mehr und auch nie mehr danach. Da war sie einfach überfordert.

Frau Hackelberg, meine Klassenlehrerin in den ersten vier Schuljahren, hatte auch an unsere Schule gewechselt. Sie versuchte uns ab der Jahrgangsstufe 7 in Französisch zu unterrichten. Wir versuchten in fast penetranter Art und Weise eine Übersetzung des Hits „Je t´aime“ von ihr zu bekommen. Wir waren uns sicher, dass jemand, der schon aussieht wie Brigitte Bardot sich mit diesen Dingen auskennt. Für mich fand dieses Begehren ein jähes Ende, als man mich wegen beharrlicher Erfolgsverweigerung am Ende der siebten Klasse aus dem Unterricht entfernte.

Apropos entfernen. Ich entfernte mich auch mehr und mehr vom Unterricht. Begonnen hatte das als der Schulzahnarzt kam. Diesem Schulzahnarzt, der in einer Verfilmung von Gräueltaten in einem KZ gut die Rolle des mit Menschenversuchen befassten KZ-Arztes hätte spielen können, wurden nun in einer Reihenuntersuchung die Schulkinder zugeführt. Er fuhrwerkte mit seinem Haken und seinem Spiegel im Mund herum. Bohrte seinen Haken mit Genuss in die kariösen Öffnungen der Zähne. Hatte wohl viel Gefallen daran dabei den Nerv zu treffen, dass die Tränen aus den Augen flossen. Dabei stammelte er irgendwelche Buchstaben und Zahlenkombinationen, und seine Assistentin notierte diese auf einem Zettel, der dann später dem behandelten Zahnarzt als Wegweiser dienen sollte. Wenn man durchgefallen, sprich kariös war, wurde man zur Wiedervorführung gebeten. Wie beim TÜV musste auch hier der Nachweis der Reparatur erbracht werden.

Dieses Ereignis hatte mich zu tiefst traumatisiert, und ich hatte mir geschworen, dass es nie mehr eine Begegnung mit diesem Schlächter geben würde. Als der Überprüfungstermin fest stand, lenkte ich an besagtem Tag morgens meinen Schritt nicht in Richtung Schule, sondern in Richtung Bahnhof. Dort saß ich dann und sah mir die vorbei fahrenden Züge an. Zum theoretischen Schulschluss ging ich nach Hause. Die notwendige Entschuldigung schrieb ich mir dann selbst. Eine Vorlage dafür hatte ich irgendwann mal vergessen in der Schule abzugeben. Man hatte einfach vergessen mich danach zu fragen, und ich hatte somit eine gute Vorlage. Die Unterschrift meines Vaters hatte ich ziemlich geschickt gefälscht. Ich brachte es später zu einer richtiggehenden Perfektion im Unterschrift fälschen. Auch auf den schlecht ausgefallenen Klassenarbeiten.

Irgendwann hatte man den Schulzahnarzttermin nicht bekannt gegeben, oder ich war bei Bekanntgabe mal wieder am Bahnhof. Ich ging also arglos in die Schule. Zur dritten Stunde hieß es dann plötzlich: „Alle Schüler zu Schulzahnarzt“. Auf dem Weg dort hin, bog ich in Richtung Toilette ab und schloss mich ein. Da ich nicht zur Untersuchung auftauchte, wurde nach mir gesucht. Unser aller Feindbild, der Hausmeister Kimmel, hatte mich dann auf der Toilette ausgemacht und den Sachverhalt unserer Klassenlehrerin gemeldet. Diese versuchte mich zum Besuch des Schulzahnschlächters zu bewegen. Allerdings ohne Erfolg. Nun wurde der Rektor gerufen. Dieser schaffte es dann, dass ich die Toilette verließ. Er versprach mir, dass ich nicht zum Schlächter muss, aber in sein Büro, um den Sachverhalt zu klären. Ich erklärte ihm meine Beweggründe für mein absonderliches Verhalten, und er wollte diesen Sachverhalt später mit meinen Eltern klären. Selbige hatten null Verständnis für mein Handeln und auch keinerlei Ambitionen entwickelt, mir in diesem Fall hilfreich zur Seite zu stehen. Für mich bedeutete das, besser aufpassen, wann der Schlächter kommt und an diesem Tag am Bahnhof Züge beobachten.

Mein Vater hatte einen Versuch unternommen, die Anforderungen des Schlächters zu erfüllen, da es ja den Mängelbericht vom ersten Mal noch gab. Ich stand schreiend hinter einem Vorhang im Behandlungsraum des Zahnarztes und ließ keine Behandlung zu. Von meinem Vater, der extremst verärgert bzw. angepisst war, wurde ich dann auf dem Nachhauseweg als Memme tituliert. Er berichtete meiner Mutter vom peinlichen Auftritt und dass man sich da nicht so anstellen müsse. Da muss man mal die Zähne zusammen beißen, was bei einer Zahnbehandlung doch eher kontraproduktiv ist. So moderten meine Zähne vor sich hin. Zahnschmerzen hatte ich keine, komischer weise.

Es sollte noch einen zweiten Vorstoß geben. In die Reichsheimstätte gegenüber war ein Zahnarzt eingezogen. Dieser hatte seine Praxis in Niederrad. Mein Vater war dort einmal zur Behandlung und meinte nun, dass dieser der geeignete Zahnarzt für mich sei. Es gab ein Vorgespräch auf der Straße und man kam überein, es mit mir zu versuchen. Auf dem Behandlungsstuhl angekommen, verständigte man sich, wenn es schmerzt, solle ich die Hand heben. Er hatte den Bohrer kaum im ersten Zahnkrater versenkt, da hob ich die Hand. Nichts geschah. Er setzte seine Bohrarbeiten unbeirrt fort. Ich hob die Hand zum zweiten Mal. Nichts. Dann hob ich die Hand wohl etwas zu heftig. Der Bohrer glitt ihm aus der Hand, und beim Wiedereinfangen bohrte er sich in den Finger. Ich wurde danach, trotz nun aufgebohrtem Zahn, der Praxis verwiesen. Trotz der Deeskalationsbemühungen meines Vater, kam es zu keinem weiteren Termin. Vertrauen zu einem Zahnarzt würde ich erst viele, viele Jahre später in einem Italienurlaub finden.

Kommen wir noch kurz zu meinen Mitschülern. Es gab viele Manfreds und Norberts. Es gab auch meinen späteren sehr engen Freund Dieter. Dieters Vater war Schleifscheibendreher. Daran erinnere ich mich, weil man bei der Abfrage durch die Lehrer, wer man sei auch immer der Beruf des Vaters abgefragt wurde. Dieter wohnte mit seinem Schleifscheiben drehenden Vater und seiner Mutter im Parterre eines älteren Mietshauses in der Stoltzestraße. Toilette gab es in der Wohnung nicht. Diese befand sich jeweils im Treppenhaus im Zwischenstock. Ich war da sehr verwöhnt und ging dort nie aufs Klo. Ich fand das komisch auf das gleiche Klo wie andere wildfremde Menschen aus dem Haus zu gehen. Und deren Duftwolken zu inhalieren. Mir war lieber, wenn Dieter zu mir nach Hause kam. Ihm war das auch lieber, denn bei mir war keiner und man konnte Sachen machen, die bei ihm nicht möglich waren. Zum Beispiel kochen.

Die Schülerschaft war bunt gemischt. Sie stammten aus den unterschiedlichsten Elternhäusern. Die Mettwurstbeinige Heidi, Tochter eines Karrosseriebauunternehmers, das Töchterchen, das jeden Morgen vom Chauffeur im Bentley vorgefahren wurde und bei Schulschluss heim chauffiert wurde. Sie hieß für uns „Butterfass“, da sie nicht nur reich, sondern auch noch leicht pummelig war. Die meisten waren Kinder der sogenannten Mittelschicht.

Am Ende der Jahrgangsstufe 6 hatte sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland überlegt, das Schuljahr künftig nicht mehr an Ostern beginnen zu lassen, sondern mit dem Beginn der Sommerferien. Somit waren die Jahrgangsstufe 7 und 8 sogenannte Kurzschuljahre. Das Schuljahr kürzer, aber der Lernstoff gleich. Das brach so manchem meiner Klassenkameraden das Genick. Bei mir wäre es beim Übergang vom kindlichen Schüler zum pubertierenden Schüler auch fast geschehen. Ich wurde nicht automatisch von der Klasse 7 in die Klasse 8 versetzt, hatte aber die Möglichkeit eine Nachprüfung zu machen. Da ich meine Freunde in der Klasse behalten wollte, hatte ich mich in den Ferien auf den Hosenboden gesetzt und gelernt und es tatsächlich geschafft. Ich wurde in die Jahrgangsstufe 8 versetzt und war von nun an ein pubertierender Schüler.


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